Frankenstein 2023 – Uraufführung in Wunsiedel

Ein neuer Blick auf ein altbekanntes Thema und viel mehr als nur zum Gruseln schön!
 
Premiere & besuchte Vorstellung: 16. Juni 2023
© Florian Miedl

Als Mary Shelley ihren Roman „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ verfasste, der ursprünglich als Zeitvertreib während eines verregneten Sommers am Genfer See gedacht war und „andere erschrecken“ sollte, wie Mary Shelley selbst über ihre Geschichte sagte, konnte sie noch nicht ahnen, was sie mit diesem Werk auslösen würde. Der Roman, der 1818 erschien, wurde als eine der ersten „gothic novels“ zu einem Klassiker der Weltliteratur und diente als Vorlage für zahlreiche Verfilmungen, so dass der Stoff zumindest in den Grundzügen weitgehend bekannt ist. Auch Theaterstücke und sogar Musical-Adaptionen (z. B. „Young Frankenstein“) entstanden. Insofern ist die Idee, aus der „Frankenstein“-Geschichte ein Musical zu machen, nicht ganz neu.

Neu – und erfrischend anders – ist aber die Herangehensweise, in der sich Autor Kevin Schroeder und Komponist Marian Lux in ihrer von den Luisenburg Festspielen extra in Auftrag gegebenen Fassung mit dem Stoff auseinandersetzen. Während die meisten bisherigen Versionen das Monster ins Zentrum ihrer Betrachtungen rücken und schlicht durch Horror-Elemente ihre Zuschauer entsetzen oder durch komödiantische Parodien unterhalten wollen, haben Schroeder und Lux einen anderen Ansatz gewählt, in dem gar nicht ganz so klar ist, wer nun das eigentliche Monster ist und ob es jenseits der Fantasie Frankensteins überhaupt wirklich existiert. Und obwohl sie eine ganz eigenständige Version geschaffen haben, die sich in ihrer Handlung vom Original deutlich entfernt, kommen sie damit dem Roman ganz nah, denn auch Mary Shelleys Text lässt es in gewisser Weise durchaus offen, ob die von Viktor Frankenstein erschaffene Kreatur wirklich das eigentliche „böse Monster“ in dieser Geschichte ist.

Anders als der Roman, der auch die Jugendzeit Frankensteins einbezieht und detailliert Frankensteins Jagd der Kreatur schildert, die ihn schließlich sogar bis in den hohen Norden führt, konzentriert sich das Musical auf die Ereignisse in Ingolstadt und Genf: Viktor und sein bester Freund Henry verlassen die Schweiz und gehen zum Studium nach Ingolstadt, wo sie die  Vorlesungen von Professor Weishaupt besuchen. Viktor fällt mit seinen wissenschaftlichen Ansätzen zunächst als „komischer Kauz“ auf, er träumt davon, den Tod zu überwinden und ein „Leben ohne Tod“ möglich zu machen. Um die Anerkennung des Professors zu erhalten und seine Forschungen betreiben zu können, ist er sogar bereit, zusammen mit Henry für den Professor einen Leichnam in die Anatomie zu schaffen, worauf der Professor ihn tatsächlich als Studenten annimmt und ihn und Henry zu einem geheimen Treffen der Illuminaten einlädt. Während Henry sich in das lustige Studentenleben stürzt und sich in Mara verliebt, ein Mädchen, das ihnen einer Waldelfe ähnlich im Wald begegnet und ein schreckliches Geheimnis hütet, stürzt sich Viktor so intensiv in seine Forschungsarbeit, dass er darüber alles andere vergisst. Sogar der Beerdigung seiner Mutter bleibt er fern und er stößt seine geliebte Elisabeth zurück, als diese nach Ingolstadt kommt, um nach ihm zu sehen und ihm einen Antrag zu machen. Was Viktor nicht weiß: Die heimliche Liebesnacht mit Elisabeth ist nicht ohne Folgen geblieben, sie erwartet ein Kind von ihm. Schließlich gelingt es ihm tatsächlich, das „Monster“ zum Leben zu erwecken, doch als er sieht, was er da erschaffen hat, ergreift er die Flucht vor seinem eigenen Geschöpf. Zurück in Genf, scheint sich zunächst alles zum Guten zu wenden, doch das „Monster“ ist ihm gefolgt und fordert Viktor auf, ihm eine Gefährtin zu erschaffen, denn es sehnt sich danach, ebenfalls geliebt zu werden. Viktor jedoch weigert sich und es kommt zur Katastrophe…

© Florian Miedl

Soweit zur Story. Kennt man den Roman, so mag man sich zunächst etwas irritiert fragen, ob die Erfindung von Mara, die es im Roman gar nicht gibt, wirklich notwendig war, und ob Elisabeth, die im Original Viktors als sehr tugendhaft beschriebene Adoptivschwester ist, sich vor der Eheschließung tatsächlich auf eine Liebesnacht eingelassen hätte.  Doch gerade dadurch, dass Schroeder und Lux durch diese Änderungen geschickt die Leerstellen des Romans ausnutzen, gelingt es ihnen, die Geschichte, die im 19. Jahrhundert spielt, zu entstauben und die Figuren menschlicher und für die Gegenwart des 21. Jahrhunderts greifbarer zu machen.

Apropos Gegenwart: Zwar sind Frankenstein Computer und Smartphones noch völlig unbekannt, aber er darf trotzdem schon mal von einer KI träumen, die in späteren Zeiten das Leben der Menschen beeinflussen wird. Das sorgt nicht nur für Lacher im Publikum, sondern wirft gleichzeitig kritisch die Frage auf, wie weit moderne Wissenschaft eigentlich heutzutage gehen darf. Und ja, ein bisschen fühlt man sich an dieser Stelle auch irgendwie an Dürrenmatt und Brecht erinnert. Lediglich das dramatische Ende kommt in dieser ansonsten äußerst gelungenen und eigenständigen Adaption (zumindest gefühlt) etwas zu plötzlich, ich persönlich hätte mir vorher noch eine ausführlichere Konfrontation zwischen Frankenstein und seinem „Geschöpf“ gewünscht, auch wenn das abrupte Ende natürlich gut zum Konzept passt.

Genauso neu wie die Story, ist auch die Musik. Endlich mal wieder ein Musical, bei dem man nicht einfach in typischer Compilation-Manier ein paar bekannte halbwegs zur Story passende Songs zusammengewürfelt hat! Marian Lux hat eine ganze Reihe abwechslungsreicher Songs komponiert, die (schwungvoll umgesetzt von der Band unter Leitung von Markus Syperek) raffiniert verschiedene Musikstile miteinander verbinden und dabei auch noch prima Inhalt und Zeitlosigkeit der erzählten Geschichte unterstützen. So wechseln sich fetzige Popsongs mit ruhigen Balladen und elektronischen Klängen ab, zu denen sich insbesondere das Monster bewegen darf, wenn Viktor es mit Hilfe von elektrischen Reizen mit Hilfe seiner Maschine zum Leben erweckt, eine geniale Idee!

© Florian Miedl

Passend ist auch das Bühnenbild: Die Felsenbühne mit ihren hohen Fichten bildet die perfekte Kulisse für diese Geschichte, die ohnehin viel in der freien Natur spielt. Dazu hat Bühnenbildner Adam Nee für Frankensteins Studierstube in Ingolstadt auf der untersten Bühnenebene, auf der auch die Band sitzt, eine Art Höhle geschaffen, die aussieht, als bestünde sie aus einem Haufen Sehnen, Muskeln und Knochen, ein Motiv, das ebenfalls in den von Nee entworfenen wahnsinnig fantasievollen  Kostümen des Ensembles auftaucht, doch dazu später mehr. Ergänzt wird die Szenerie auf den oberen Ebenen der Bühne in einigen Szenen durch einen Wasserfall oder durch das Feuer, an dem Mara sitzt. Die Lichtstimmungen von Markus Seemeier und Fridthjofur Thorsteinsson sorgen zudem für eine mystische Atmosphäre.

Christoph Drewitz nutzt mit seiner Regie geschickt alle Spielebenen der Bühne einschließlich des Zuschauerbereichs aus und lässt auf diese Weise packende Bilder entstehen, die im Kopf bleiben. Gleiches gilt für Bart de Clercqs mitreißenden Choreografien, zu denen das Ensemble über die Bühne wirbeln darf, das sowohl z. B. Frankensteins Mitstudenten als auch vor allem das „Monster“ verkörpert. Und damit sind wir beim eigentlichen Clou dieser Inszenierung, denn das Geschöpf, das Viktor in seinem Labor aus verschiedenen Leichenteilen zusammensetzt und zum Leben erweckt, ist hier nicht eine einzige Figur, die von nur einem Darsteller gespielt wird, sondern folgerichtig ein Wesen aus mehreren Gestalten, die sich alle gemeinsam bewegen und gemeinsam sprechen – und, wenn sie nicht als „Monster“ auf der Bühne stehen, in die anderen Ensemblerollen schlüpfen, wobei die Muskel-Knochen-Kostüme, zu denen sie Masken tragen, die wie die Hände eines Skeletts aussehen, stets sichtbar bleiben. Irgendwie steckt eben in jedem Menschen ein bisschen „Monster“.

Neben dem Ensemble und der Kinderrolle des „Wilhelm“, Viktors jüngerer Bruder, der abwechselnd von jungen Talenten aus der Region gespielt wird, gibt es in dieser Inszenierung fünf Hauptrollen: Mara, Professor Weishaupt, Henry Clerval, Elisabeth Lavenza und natürlich Viktor Frankenstein. Faye Bollheimer spielt die „Mara“ mit glockenheller Stimme so zauberhaft, dass man ihr das feenhafte Mädchen aus dem Wald sofort abnimmt. Torsten Ankert gibt mit viel Spielfreude den zwielichtigen Professor Weishaupt, der den wissbegierigen Viktor für seine eigenen Zwecke ausnutzt und durchaus als sein diabolischer Gegenspieler, der am Elend Frankensteins nicht ganz unschuldig ist, betrachtet werden kann. Timo Stacy ist ein sehr sympathischer Henry Clerval, mit dem man sich identifizieren kann, ein bester Freund, der alles für seinen Freund Viktor tut und dem man vertrauen kann. Man möchte ihn geradezu manchmal vor der Freundschaft mit Viktor warnen. Für mich eine echte Neuentdeckung, ein Name, den man sich merken sollte.  Mareike Heyen verkörpert überzeugend mit großartiger Stimme die Elisabeth als selbstbewusste junge Frau, man spürt ihre Sorgen um Viktor genauso wie ihre Entschlossenheit, ihr Schicksal mutig selbst in die Hand zu nehmen und für die Beziehung mit Viktor zu kämpfen.

© Florian Miedl

Sie alle singen und spielen fantastisch, gar keine Frage, und doch steht und fällt dieses Stück vor allem mit dem Darsteller der Titelfigur Viktor Frankenstein. Jonas Hein zieht das Publikum sofort schon mit seinem ersten Satz hoch oben auf den Felsen zu Beginn des Stücks in seinen Bann: „[….] i c h bin das Monster!“ Bereits diese wenigen direkt an das Publikum gerichteten Worte genügen, um die Zuschauer zu fesseln und neugierig auf diese Figur zu machen. Überhaupt macht er sie im Laufe des Abends immer wieder geschickt zu seinen Verbündeten (oder sogar Mittätern), wenn er – als einzige Figur –  zwischendurch kurz die vierte Wand durchbricht und das Publikum direkt anspricht und so zum Nachdenken anregt.

Es gelingt Jonas Hein wieder einmal, mit seinem facettenreichen Spiel und seiner wunderschönen Stimme zu berühren und die ganze Bandbreite seines Könnens zu zeigen. Ob  als streberhafter „komischer Kauz“ in der Vorlesung, in den gefühlvollen Momenten mit Elisabeth, in seinem Schaffensdrang und seiner Begeisterung für seine „Maschine“ oder in den Augenblicken tiefster Verzweiflung, auch wenn man nicht richtig weiß, ob man diesen Viktor nun uneingeschränkt sympathisch finden oder doch verurteilen sollte, man fiebert mit ihm mit bis zum Schluss, denn Hein schafft es, diesen Viktor Frankenstein trotz seines fragwürdigen Tuns von seiner menschlichen Seite zu zeigen und seinen inneren Konflikt deutlich werden zu lassen. Die Rolle scheint ihm geradezu auf denn Leib geschrieben worden zu sein, einen besseren Frankenstein kann man sich nicht wünschen, alleine schon diese grandiose Meisterleistung war die weite Anreise wert!

Punkteabzug gibt es lediglich für den Wettergott, der leider ausgerechnet bei der Premiere entgegen der Wettervorhersage vom ersten Ton bis zum Schlussapplaus für Dauerregen sorgte und die armen DarstellerInnen, die diese zusätzliche Herausforderung aber mit Bravour meisterten, ziemlich nass aussehen und in großen Pfützen auf dem Bühnenboden enden ließ. Ein gelungener Abend war es trotzdem!

Fazit: „Frankenstein“ bei den Luisenburg-Festspielen in Wunsiedel ist für mich definitiv das Musical-Highlight des Sommers! Ein spannendes neues Stück mit aktueller Thematik und grandioser Besetzung, das nicht nur Spaß macht, sondern auch zum Nachdenken anregt. Wer kann, sollte unbedingt hinfahren, es lohnt sich!

Vorstellungen in Wunsiedel gibt es noch am 20.07., 21.07., 27.07., 30.07., 03.08. und 12.08.23. Daneben sind im Zeitraum vom 13.-22. Oktober 2023 weitere Vorstellungen im Stadttheater Fürth geplant.


Gastbeitrag von Andrea G.