Theater Bielefeld 2025/26 – Anastasia

„Wenn du anerkannt werden willst, musst du dich erstmal selbst anerkennen“ (Zarenmutter)

© Sarah Jonek

Premiere: 20. September 2025 – rezensierte Vorstellung: 05. Oktober 2025

Manchmal ist es gut sich von bereits bekannten Inszenierungen frei zu machen und vollkommen ohne Erwartungen in eine neue Inszenierung zu gehen. Die Stage Entertainment Produktion kannten wir nur von den Berichten unserer Kolleginnen (hier geht`s lang: Anastasia in Stuttgart), Szenenfotos waren bekannt, mehr aber nicht und so konnten wir uns vollkommen auf die Regieideen von Janina Niehues einlassen. Entstanden ist eine märchenhafte Vorstellung, die die eigene Fantasie anregt, einen fesselt und emotional mitnimmt. 

Inspiriert vom Twentieth Century Fox Zeichentrickfilm wurde das Musical im Mai 2016 in Connceticut uraufgeführt, bevor es im April 2017 an den Broadway kam und bereits 2018/2019 die Deutschlandpremiere in Stuttgart folgte. Das Musical erzählt die Geschichte rund um den Mythos ANASTASIA, welche das Attentat auf ihre Familie während der russischen Revolution überlebt haben könnte. Die Geschichte wird so verwoben, dass man als Publikum selbst sich häufiger die Frage stellen kann „Ist sie es oder ist sie es nicht?“. Dimitri und Wlad wollen aus Russland fliehen und in Paris der Zarenmutter Maria Fjodorowna eine Enkelin präsentieren. Die Zarenmutter hat einen Finderlohn ausgeschrieben, der den beiden einen Neustart finanzieren könnte. Sie finden auf den Straßen Sankt Petersburg Anja, sie möchte ebenfalls aus Russland fliehen und kann sich an ihre Vergangenheit nicht erinnern. Nur, dass die Krankenschwestern ihr den Namen „Anja“ gaben. Es entsteht ein perfektes Trio. Ein Trio, welches versucht aus Anja eine Prinzessin zu machen. Auf dieser Reise erfährt Anja auch immer mehr über sich selbst, ihr Gedächtnis kommt wieder und dennoch bleibt am Ende die Frage offen, ob sie es nun ist oder nicht…

© Sarah Jonek

Sie treffen auf dieser Reise auch auf den Sowjetführer Gleb, welcher alles daran setzt die letzte Romanov-Erbin zu finden, wenn es sie wirklich noch gibt. Die Revolution stände für Veränderung und mit dem Fortbestehen des Zarentums würde sich nichts verändern. Seine Mission ist es, die Arbeit seines verstorbenen Vaters zu beenden…

Janina Niehues hat mit ihrem Kreativteam einen klaren Kontrast zur bekannten Stage Produktion oder anderen Inszenierungen gesetzt und das gibt dem Musical enorme Chancen. Durch das klare und minimale Bühnenbild, sowie einem stringenten Kostüm (vorwiegend weiß; die Adelsfamilie hat Spiegelscherben auf den Kleidern), rückt die Musik in den Mittelpunkt des Geschehens. Die Bielefelder Philharmoniker unter der Leitung von William Ward Murta zeichnen einen cineastischen Klang, der zum träumen und mit fiebern einlädt. Bereits nach den ersten Takten hatten wir schon eine Gänsehaut. An dieser Stelle sei auch der Sound (Morgan Belle) erwähnt, welcher die gesamte Vorstellung über auf den Punkt perfekt abgemischt war. 

Aber nicht nur die Musik von Stephen Flaherty rückt in den Mittelpunkt, sondern auch das Spiel von jedem einzelnen der Darstellenden. Alles weitere entsteht in den Köpfen eines jeden Einzelnen im Publikum und tatsächlich benötigt es dafür kein buntes Kostümbild, auch wenn man zu Beginn vielleicht dachte „Hm, nur weiß?“.

Die LED-Silhouetten von Russland oder Paris helfen bei der Orientierung, ebenso wie das Symbol der Sowjets wenn Gleb auftritt. Besonders stark und intensiv sind jene Szenen, in denen die Darstellenden alleine auf der Bühne stehen und lediglich durch das Licht und ihr darstellerisches, sowie gesangliches Können glänzen können. Die Kleinigkeiten wie eine passend eingesetzte Nebelmaschine, Schneefall und Wind runden diese Szenen ab. 

© Sarah Jonek

Die Choreografien von Yara Hassan fügen sich ins Geschehen ein. Ob Polka, Walzer, Tango oder Charlston, sie sind zu keiner Zeit aufdringlich und rahmen die Szenen. Tänzerisches Highlight dürfte die Schwanensee-Szene sein, in welcher Ann-Charlotte Wittmann als Tanzsolistin ihre Ballettkünste unter Beweis stellen kann. 

Es fällt schwer in dieser Inszenierung Einzelne besonders hervorzuheben, denn die Energie im gesamten Ensemble, einschließlich Opernchor, war besonders geladen. So geladen, dass das Publikum stellenweise fast den Szenenapplaus vergaß. Dennoch möchten wir kurz auf die Hauptakteure eingehen:

Lara Hofmann zeichnet eine starke Anja und eine noch stärkere Anastasia, die wohl einiges im Sinne der Revolution hätte verändern können. Ihr „Im Dezember vor Jahren“ und „Reise durch die Zeit“ sind magisch und zaubern Gänsehaut. Es sind zwei dieser Szenen, wo eine Person den gesamten Theatersaal ausfüllt und in ihren Bann zieht.

Ihr zur Seite stehen Andreas Bongard als Dimitri und Carlos H. Rivas als Wlad. Sie sind Anastasias Mentoren und die Gauner der Geschichte. Bongard harmoniert mit Hofmann perfekt. Das Duett „Unter all den Menschen“ scheint die Geschichte zu drehen und zeigt die gegenseitige Verliebtheit, auch wenn Dimitri und Anja es selbst noch nicht erkennen mögen. Carlos H. Rivas zeichnet seinen Wlad als Charmeur, der zu wissen scheint, was Frauen möchten und steht auch Anja/Anastasia mit Rat und Tat zur Seite. Gesanglich liefert er gemeinsam mit Cornelie Isenbürger als Gräfin Lilly mit „Die Gräfin und der Bürgersmann“ einen heiteren Moment in der Geschichte. 

© Sarah Jonek

Betty Vermeulen als Zarenmutter spielt zwischen Bitterkeit und Herzlichkeit. Ihr Solo „Schließ die Tür“ rührt zu Tränen. Das Zusammenspiel mit Lara Hofmann, aber auch mit den Kinderdarstellern zu Beginn strahlt voller Wärme. 

Überraschung des Tages war für uns Nikolaj Alexander Brucker. In vergangenen Spielzeiten am Theater Bielefeld konnten wir ihn schon immer wieder erleben, allerdings meistens in Sprechrollen oder komödiantisch angelegten. Nun erlebten wir die ernste Seite von ihm und das nicht nur schauspielerisch, sondern auch gesanglich. Mit „Die Newa fließt“ kann Brucker mit einem warmen Timbre überzeugen und der Zuschauer erahnt, dass Gleb vielleicht gar nicht so böse ist, wie es scheint.

Fazit: ANASTASIA erzählt eine Geschichte zwischen Revolution, Evolution und Mythos. Wer eine klassische Inszenierung erwartet ist in Bielefeld an der falschen Adresse. Wer auch einmal offen ist für etwas neues oder sich seine eigene Meinung bilden möchte, ist goldrichtig. Denn in unseren Augen hat diese Inszenierung neue starke Akzente gesetzt, die eventuelle Schwächen des Buches gar nicht groß ins Gewicht fallen lassen.

 

Besetzung der Vorstellung

  • Anja: Lara Hofmann
  • Dimitri: Andreas Bongard
  • Wlad: Carlos G. Rivas
  • Gleb: Nikolaj Alexander Brucker
  • Zarenmutter: Betty Vermeulen
  • Gräfin Lilly/ Zarin Alexandra/ Dunja: Cornelie Isenbürger
  • Marfa/ Schwanenseetänzerin u.a.: Ann-Charlotte Wittmann
  • Zar Nikolaj II./Paulina/Graf Leopold u.a.: Max William Best
  • Soldat/Russischer Reporter u.a.: Niklas Brunner
  • Opernchor 

Kreativteam

  • Regie: Janina Niehues
  • Choreografie: Yara Hassan
  • Musikalische Leitung: Willam Ward Murta
  • Bühne/Kostüme/Video: Sebastian Ellrich
  • Licht: Carsten Lenauer
  • Sound: Morgan Belle
  • Dramaturgie: Jón Philipp von Linden

Tickets gibt es direkt über das Theater Bielefeld an der Theaterkasse oder im Webshop. Aber Achtung! Die Vorstellungen sind sehr schnell ausverkauft. Neue Termine werden am 04. November 2025 in den VVK eingestellt. 

Wir bedanken uns beim Theater Bielefeld für die Einladung!


Artikel von Anna-Virginia