Ragtime – das Musical , Staatstheater Kassel 2017
Der Traum, der sich Amerika nennt
„Ragtime –das Musical“ feierte Premiere am 28. Januar 2017 im Staatstheater Kassel
Ragtime [`raegtaime; der; engl], ein Ende des 19. Jh. In den USA entstandener komponierter afro-amerikanischer Klavierstil, der als Akkulturationsphänomen europäische Salon- bzw. Unterhaltungsmusik mit afro-amerikanischer Idiomatik verbindet. Charakteristisch ist die in geradem Takt geführte linke Hand mit einem Basston auf der vollen Zeit und nachschlagendem Akkord bei synkopierter, an den Dreiklängen orientierter Melodie in der rechten Hand. (Quelle: Die grosse Bertelsmann Lexikothek)
So wird Ragtime in dem Lexikon beschrieben, wie ich am Tag nach der Vorstellung nachlas.
Oder kurz gesagt: Die Musik zum Film „Der Clou“ mit Paul Newman und Robert Redford in den Hauptrollen. Wer kann diese Melodien nicht summen?
So gingen wir also uninformiert in die Premiere von „Ragtime – das Musical“, mit dem Hintergedanken an den Soundtrack des Hollywoodklassikers und freuten uns darauf, drei Stunden lang in das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts der Vereinigten Staaten von Amerika einzutauchen.
Im Saal angekommen, fanden sich, auf der noch in Schwarz gehüllten Bühne, Kinderspielzeuge, die der Zeit entsprachen: ein Blechkarussell, ein Schiff und noch ein paar andere – alle positioniert am vorderen Bühnenrand. Oben über der Bühne war eine LED-Wand installiert, auf der man später die Übersetzungen der Songtexte mitlesen konnte, denn nur die Dialoge waren in Deutsch. Die Lieder wurden alle in Englisch gesungen.
Die schwarze Wand hob sich und als Kulisse war nun die Front eines alten Fotoapparates zu sehen, aus dessen Linse der Junge kletterte und sich zu den Spielzeugen setzte. Nach und nach kamen von beiden Seiten die Darsteller auf die Bühne. Jede einzelne Figur des Stückes, dem der gleichnamige Roman von E.L. Doctorow als Vorlage diente, bekam nun im Prolog die Möglichkeit, sich vorzustellen. So beginnt diese Inszenierung, die dann ganz anders verlief als erwartet.
Das Stück ist jedenfalls kein „Happy-und-immer-fröhlich-Musical“. Jedem, der mir in Zukunft sagt, dass Musical Kitsch sei, werde ich eines Besseren belehren. So wie es in allen Genres des Theaters Sparten von Komödie bis Drama gibt, so ist es auch im Musical. „Ragtime“ stellt dabei ein Drama dar, das zum nachdenken anregt. (Hier geht es zum Inhalt).
„Ragtime“ spielt zwar am Beginn des 20. Jahrhunderts, trifft aber genau den Nerv der Zeit, in der wir nun im 21. Jahrhundert leben. Man hat wirklich das Gefühl, dass der einzige Unterschied in der Kleidung und den nicht vorhandenen Smartphones besteht. Hörte man sich in der Pause um, war das der Hauptpunkt, über den diskutiert wurde.
Der Ton ließ an vielen Stellen leider zu wünschen übrig. Die Darsteller waren teilweise sehr schlecht zu verstehen Um diesen ganzen Stoff zu erfassen, musste man sich schon konzentrieren und diese Schwäche war da nicht gerade förderlich. Das Orchester unter der Musikalischen Leitung von Xin Tan spielte zwar gut, übertönte aber durch die Schwäche der Toneinstellung die Stimmen der Sänger.
Die Kulisse bestand aus vielen verschiebbaren Elementen, die von oben, links, rechts und hinten immer wieder auf die Bühne geschoben wurden. Hinter der Wand der Wohnung der Familie fanden sich nach deren Verschwinden nach oben immer wieder neue und andere Szenerien. Möbelstücke wurden von den Darstellern auf die Bühne und wieder hinunter geschoben. Das Bühnenbild ließ einen, gerade durch die kleinen Details wie z.B. das Grammophon im Haus der Familie, in die Zeit nach 1900 eintauchen.
Sehr schön fand ich das Bild, kurz nach Beginn, als sich „Vater“ nach Alaska aufmacht. Regisseur Philipp Kochheim hat hier ganze Arbeit geleistet. Auf dem Weg dorthin begegnet sein Schiff im Dunkeln einem anderen. Auf diesem Schiff befindet sich „Tateh“, der mit seiner Tochter nach Amerika immigriert. „Journey On“ heißt der Titel des Liedes in diesem Moment. „Ein Salut an den Mann auf dem Deck des anderen Schiffes. Ein Salut an den immigrierten Fremden. Nur der Himmel weiß, warum du herkommst!” grüßt Vater zum anderen Schiff („A salute to the immigrant stranger. Heaven knows why you’s make”) „Two men meeting, At the moment, Of a journey,. For a moment, In the darkness, We’re the same…“ singen sie zur selben Zeit, während der eine mit Hoffnung in die neue Welt segelt und der andere von „so einem Land wie diesem Traum, der sich Amerika nennt“, immer weiter Abstand nimmt. „Ja, warum nur?“, fragt sich Tateh.
Jeder der Männer steht während dieses Liedes auf einem bewegbaren Podest, auf dem ein Segelmast angebracht ist. Auch sind noch weitere Personen auf diesen Gefährten mit unterwegs. Diese „Schiffe“ fahren im Dunkeln nebeneinander her, drehen sich um sich selbst und um das andere. Das eine lässt Fernweh spüren, das andere die ersehnte Ankunft.Weil jeder von uns schon einmal auf so einer ähnlichen Reise war.
Das gesamte Ensemble, von Alvin Le-Bass als „Colehouse Walker“ bis hin zu Dapheny Oosterwolde aus dem „Harlem – Ensemble“, ist konzentriert dabei und liefert komplett eine gute Vorstellung ab. Manche Szenenübergänge laufen noch nicht ganz rund und man denkt: Was machen sie jetzt? Hat einer den Faden verloren? Aber das sind Kleinigkeiten, die sich, wie in fast jeder Inszenierung, mit der Zeit einspielen werden.
Wenn man uns nun jedoch fragt: Wie die Musik und die Melodien waren, können wir den Fragenden selbst nur fragend ansehen. Wir waren so konzentriert auf den Inhalt und die Geschichte, dass die Musik, die ein Musical ausmacht, nicht hängengeblieben ist. Das Orchester hat gut gespielt, die Schauspieler haben gut gesungen, aber es ist nicht eine Melodie hängen geblieben. Selbst bei einem Stück wie „Ragtime“, das mit vier Tony Awards und fünf Drama Desk Awards unter anderem für die Musik und Orchestrierung ausgezeichnet wurde.
Alles in allem ist es ein Stück zum Nachdenken, dessen Geschichte ohne Probleme aus jedem Jahrzehnt stammen könnte. Im Mittelpunkt steht hier Amerika als Land der unbegrenzten Möglichkeiten und als freies Land, aber ist es das wirklich? Gibt es überhaupt ein Land, in dem man frei sein kann? Und gibt es Gerechtigkeit für jeden Menschen? Werden wir das je erreichen? Gerade heute sind das Fragen, die sich die Menschen wieder intensiver stellen denn je….
„Eines Nachmittags , als er seinen Kindern beim Spielen zusah, hatte Tateh eine Idee für einen Film: Eine Schar von Jungs, weiße, schwarze, christliche, jüdische, muslimische, reiche, arme, die immer in Schwierigkeiten geraten, aber immer wieder herausfinden, stets gemeinsam trotz aller Verschiedenheit. Ein Traum von dem, was unsere Gesellschaft sein könnte.“
Epilog des Musicals „Ragtime“ (Auszug aus dem Programmheft)
Bericht: Nathalie
Ragtime – das Musical
Buch: Terrence McNally Musik: Stephen Flaherty
Gesangstexte: Lynn Ahrens nach dem gleichnamigen Roman von E. L. Doctorow | Deutsch von Roman Hinze
In Koproduktion mit dem Staatstheater Braunschweig
Premiere: 28.01.2017, 19.30 Uhr | Opernhaus
Dauer: 3 Stunden
Musikalische Leitung: Xin Tan / Deniola Kuraja
Inszenierung: Philipp Kochheim
Bühne: Thomas Gruber
Kostüme: Mathilde Grebot
Licht: Dirk Thorbrügge
Dramaturgie: Christian Steinbock
Choreinstudierung: Marco Zeiser Celesti
Choreografie: Kati Farkas
Premieren Besetzung
Coalhouse Walker jr.: Alvin Le-Bass
Sarah: Dionne Wudu
Vater: Mike Garling
Mutter: Monika Staszak
Jüngerer Bruder: Markus Schneider
Tateh: Randy Diamond
Emma Goldman: Sonja Tièschky
Evelyn Nesbit: Janina Moser
Harry Houdini: Philipp Georgopoulos
Booker T. Washington: Darrin Lamont Byrd
Großvater: Dieter Hönig
Junge: Stavros Katsagiorgis / Benjamin Klein (Premiere)
Mädchen: Kristina-Sofia Katsagiorgis (Premiere) / Pauline Roppel
Sarahs Freundin: Tina Ajala / Amani Robinson
Henry Ford | Charles S. Whitman | Kinobuchkäufer: Bernhard Modes
J. P. Morgan: Michael Boley
Willie Conklin | Stanford White | Polizist: Nils Zeuner
Richter | Passant: Noel Sanchez
Admiral Peary | Feuerwehrmann | Regieassistent: Henning Leiner
Weißer Anwalt | Baseball-Catcher: Michal Kuzma
Polizist | Reporter | Harry K. Thaw | Bürokrat: Sebastian Meder
Matthew Henson: Valentino L. McKinney
Schwarzer Anwalt: Dominik Doll
Kathleen | Fürsorgebeamtin: Sabine Roppel
Harlem-Ensemble: Tina Ajala / Nina Baukus / Catherine-Busisiwe Chikosi / Amani Robinson / Denise Obedekah / Dapheny Oosterwolde /
Dominik Doll / Gavin-Viano Fabri / OJ Lynch / Valentino L. McKinney