Kasimir & Karoline – Uraufführung 2023

„Menschen ohne Gefühle haben es nämlich viel leichter im Leben“

© Tim Müller

Premiere: 08. Dezember 2023 – rezensierte Vorstellung: 13. Dezember 2023

Die Staatsoper Hannover hat sich im Bereich Musical etwas getraut. Nach vielen Jahren der Klassiker in diesem Haus, wie MY FAIR LADY oder WEST SIDE STORY hat die Intendanz nun erneut ein Auftragswerk zur Uraufführung gebracht. Als Stoff wurde sich Ödön von Horvaths KASIMIR UND KAROLINE aus dem Jahr 1932 genommen. Ein Theaterstück, welches nach der Regieanweisung im „hier und jetzt“ spielen soll. Also zum Zeitpunkt der Veröffentlichung/Erstaufführung zur Zeit der Weltwirtschaftskrise. Ein Stoff, der an seiner Aktualität nichts einzubüßen hat, denn in dieser Nacht kann man sich alles erlauben, wenn man es sich leisten kann.

Die Musicaladaption stammt von Martin G. Berger (Buch, Liedtexte, Regie), Martin Mutschler (Buch) und Jherek Bischoff (Musik). Das niedersächsische Staatsorchester wird fantastisch dirigiert von Maxim Böckelmann. 

© Tim Müller

Inhaltlich bleibt der Kern der Handlung Horvaths erhalten. Statt auf dem Oktoberfest entführt uns Juanita in die tiefe dunkle Nacht, ins Nachtleben, in einen Club. Kasimir ist nicht mehr Chauffeur, sondern ein Automechaniker, der seinen Job verliert. Karoline ist Friseurin und freut sich auf den Ausflug. Endlich mal wieder richtig Spaß haben und auch wenn Kasimir es ihr nicht glauben mag, sie will sich nicht von ihm trennen, nur weil er seinen Job verloren hat. Kasimir hingegen befürchtet, dass er nun abgeschoben wird. Eugen Schürzinger ist Student der Mediävistik und verirrt sich erstmals in einen Club. Dort verguckt er sich in Karoline. Karoline lernt Eugen näher kennen und findet ihn sympathisch, ein sozialer Aufstieg würde ihr bevorstehen. Aber eigentlich wäre ihr ein „Christian“ lieber, denn Christian steht für Erfolg, Macht und Geld. Dann sind da noch Speer (Universitätsdekan) und Rauch, ein wichtiger Geldgeber der Universität. Karoline erfährt im Verlaufe des Stücks, dass Rauch mit Vornamen Christian heißt und lässt daraufhin Eugen Schürzinger stehen und nimmt die Einladung zur Fahrt ins „Altötting“ an. Diese Fahrt endet mit einem Unfall. Karoline kann Rauch das Leben retten, Dankbarkeit erfährt sie keine. Kasimirs Freund Merkl Franz greift gerne zum Alkohol und Erna ist die Leidtragende. Endet KASIMIR & KAROLINE mit einem Happy End oder in einer Tragödie? Das verraten wir an dieser Stelle nicht.

Das Bühnenbild von Sarah-Katharina Karl ist multifunktional und erfüllt seinen Zweck. Ein großer begehbarer Würfel steht auf der Drehbühne und stellt den Club dar. Im Inneren gibt es allerlei Treppen, sowie Kulissenteile, die für eine Karussell- oder Achterbahnfahrt stehen. Das Innenleben des Clubs erfährt das Publikum durch Live-Videos (Anna-Sophia Leist) auf einer zusätzlichen Projektionsfläche im oberen Bühnenbereich. Das Einsetzen von Live-Videos ist ein gern genutztes Motiv des Regisseurs Martin G. Berger. Leider wurde die Funkübertragung an unserem Abend öfters gestört, sodass die Projektionsfläche die meiste Zeit schwarz blieb. Zum Ende des ersten Akts werden die einzelnen Bühnenelemente aufgebrochen und sämtliche Treppen aneinander geschoben. Dies erzeugt einen langen und hohen Treppenlaufsteg, der vielfach genutzt wird. Zusätzlich kommt im zweiten Akt noch ein schwebender Autoscooter zum Bühnenbild hinzu.

© Tim Müller

Bombastisch sind neben dem Bühnenbild auch die Kostüme von Esther Bialas. Während Karoline, Kasimir, Eugen, Merkl Franz, sowie Speer und Rauch und die Clubbesucher in herkömmlichen Alltagsklamotten in den Club gehen, werden farbliche und stilistische Highlights bei den Kostümen von Juanita gesetzt. Drew Sarich muss sich an diesem Abend bis zu fünfmal umziehen und präsentiert von Lackleder-Röcken in kurz und lang bis hin zur Hotpans und glamouröser Abendrobe so manches Highlight. Dabei ist er immer selbstsicher auf seinen Plateauschuhen unterwegs.

Auch die Musik von Jherek Bischoff kann überzeugen, wenn sie für sich alleine steht. Bischoffs Musik erinnert sehr an Filmmusik und so untermalt sie manche Szene grandios in ihrer Emotionalität. Bischoff bedient aber auch weitere Musikrichtungen, wie Elektro-Sounds, Rockmusik oder klassische Streichersequenzen. Kommt der Gesang hinzu, gibt es Stärken und Schwächen in der Partitur, sowie in der Tonabmischung. Vor allem letztere sorgt leider dafür, dass man z.B. während der „Freakshow“ den glamourösen Auftritt der Juanita gesanglich kaum versteht, da das Orchester und der Opernchor in diesem Fall zu laut und die Mikros zu leise sind. 

Die Dialoge werden teilweise 1:1 aus dem Original übernommen und sogar in den Songtiteln der Protagonisten verwoben. Das ist ein genialer Schachzug, ähnlich wie bei ROMEO & JULIA (wir berichteten). Zur Sicherheit und für das Verständnis werden Übertitel rechts und links an der Bühne angezeigt. Sitzt man allerdings nicht mittig im Zuschauerraum (aus welchen Gründen auch immer) kann man zwar die Übertitel gut sehen, doch der Fokus landet schnell nur noch auf den Übertiteln und weniger bei den Geschehnissen auf der Bühne. Zudem übertönt oftmals der 24-köpfige Opernchor, in den gut dosiert eingesetzten Sequenzen, die Protagonisten, sodass man abermals gezwungen ist den Übertiteln zu folgen. Hier könnte ggf. weniger mehr sein und zum besseren Hörerlebnis beitragen. 

© Tim Müller

Mit dem engagieren von Drew Sarich hat die Staatsoper Hannover alles richtig gemacht. Sarich ist es, der die Show trägt. Er kreiert für sich eine weitere grandiose Diva – Juanita, die sich selbst auch erst noch richtig finden muss. Grazil stolziert Drew Sarich in Plateuabsatz-Schuhen über die Bühne oder die Kulissentreppe rauf und runter, interagiert mit dem Publikum und kann neben seinem fabelhaften Gesang mit seinem detailreichen Schauspiel punkten. Aber nicht nur das, auch die Akustik-Gitarre wird von ihm mehrfach genutzt und so ist es Sarich an der Gitarre, der den Abend eröffnet und keine bombastische Ouvertüre. Ein Gitarrenspiel, welches zum Nachdenken anregt.

Auch Sophia Euskirchen als Karoline wurde als Gast an der Oper engagiert und kann vor allem mit ihrem Spiel überzeugen. Die Naivität der Karoline arbeitet Euskirchen grandios heraus. Gesanglich kann Euskirchen ebenfalls auf sich aufmerksam machen. Man hätte gerne noch mehr von ihr gehört, um ihre gesamte Stimmfarbe zu erfahren.

An ihrer Seite Schauspieler Dejan Bucin als Kasimir und Opernsänger Philipp Kapeller als Eugen Schürzinger. Ihr Spiel nimmt man ihnen zu jeder Sekunde ab. Sei es die Verzweiflung bei Kasimir oder das über die Stränge schlagen bei Eugen. Gesanglich fügen sich beide wunderbar ein und können mit ihren Darbietungen berühren. 

Ketevan Chuntishvill schafft es als Opernsängerin sich dem Musicalsound anzupassen, auch wenn man trotzdem hört, wo ihr stimmliches zuhause ist. Ihre Erna berührt zu jeder Sekunde. Ihr Song „Orion“ lädt zum träumen ein und ihr Solo am Ende des 2. Aktes spricht vermutlich das aus, was aktuell jeder denkt.

„Für mich sollte ein Theaterstück sein, wie ein Bus. […] Jedem die Möglichkeit geben dazu zusteigen, Türen öffnen, dann kannst du sie mitnehmen. Wenn man vorher schon sagt das ist auf Englisch [oder] man muss sich eingelesen haben, dann lässt man einen Haufen Leute an der Haltestelle stehen.“ (Heiko Wohlgemuth, Interview mit Bergmanns Bühne 2020)

Dieses Zitat aus dem Interview mit unserem Kollegen Michael Bergmann haben wir bewusst gewählt, um unsere Gedanken, die wir auf dem nach Hause Weg hatten, einordnen zu können. Denn KASIMIR & KAROLINE als Musical nimmt ganz klar diejenigen mit, die das Theaterstück bereits im Unterricht durchgenommen haben (mehrere Schulklassen waren anwesend) oder jenes Schauspiel bereits gesehen haben. Jemand, der zwar von KASIMIR & KAROLINE schon gehört hat, es aber nicht im Detail kennt, der wird u.U. an der Haltestelle stehen gelassen. Natürlich gibt es eine Einführungsveranstaltung vor der Vorstellung, wie man es aus der Oper kennt, aber nicht jeder hat dafür Zeit oder die Muße. Zudem nimmt solch eine Einführungsveranstaltung u.U. auch einiges an Spannung und vor allem Illusion raus, wenn man eben schon weiß, was womit gemeint ist. Aber eigentlich möchte man im Theatersaal sitzen und selbst verstehen, dass der „Zeppelin“ z.B. für Luftschlösser steht und einfach einen Theaterabend haben, wo man seine Alltagssorgen vergisst.

Das man die Alltagssorgen bei KASIMIR & KAROLINE nicht vergessen kann, liegt indirekt an den angesprochenen Themen. Passender könnte eine Stückauswahl in der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Struktur nicht gewählt sein. 

© Tim Müller

Fazit: Mit KASIMIR & KAROLINE hat eine gewagte Neuinterpretation die Bühne erobert. Angekündigt als Musical, entpuppt sich dieses Adaption doch eher zur Glam-Rock-Oper und reiht sich somit direkt bei ähnlichen Stücken wie HEDWIG AND THE ANGRY INCH ein. Ein neues Musical, welches den Finger sprichwörtlich in die Wunde legt und dennoch nicht hoffnungslos ist, sowie durch durchweg glaubhaftes Schauspiel überzeugen kann. 

Cast & Crew

  • Juanita: Drew Sarich
  • Kasimir: Dejan Bucin
  • Karoline: Sophia Euskirchen
  • Schürzinger: Philipp Kapeller
  • Erna: Ketevan Chuntishvili
  • Merkl Franz: Yannick Spanier
  • Rauch: Frank Schneiders
  • Speer: Daniel Eggert
  • Elli: Basak Ceber
  • Maria: Clarissa Reif

Wir bedanken uns bei der Staatsoper Hannover für die Einladung!


Artikel von Anna-Virginia