Jane Eyre – Deutsche Erstaufführung in Nordhausen

Eine fesselnde Story mit starken Darstellern

Premiere: 01. April 2022

Besuchte Vorstellungen: 01. & 02. April 2022

Neue Musicals mit anspruchsvollem Inhalt haben es oft nicht leicht. Schon gar nicht an den Stadttheatern, die oft lieber auf alte Klassiker wie „My fair Lady“ oder auf bekannte Webber-Stücke wie „Jesus Christ Superstar“ oder „Evita“ setzen, um Publikum ins Haus zu locken. Umso schöner ist es, wenn ein Stadttheater doch einmal den Mut besitzt, ein (zumindest in Deutschland) noch verhältnismäßig neues Stück auf die Bühne zu bringen, das weder von einem bekannten Komponisten stammt noch ein Compilation-Stück ist, bei dem man die Songs reihenweise mitsingen kann, sondern das ganz allein durch eine packende Story und tolle Darsteller in einer gelungenen Inszenierung punktet.

Die Geschichte von Jane Eyre, dem Waisenmädchen, das unter seiner strengen Tante zu leiden hat, von ihr ins Mädcheninternat gesteckt wird, schließlich eine Stelle als Gouvernante antritt und sich dabei trotz aller gesellschaftlichen Unterschiede in ihren scheinbar etwas launischen Arbeitgeber Mr. Rochester verliebt, der die Gefühle erwidert, aber ein dunkles Geheimnis verbirgt, ist längst zum Klassiker der Weltliteratur geworden. Bis heute hat der 1847 erschienene Roman von Charlotte Brontë nichts von seiner Faszination verloren und wurde mehrfach verfilmt sowie für die Theaterbühne adaptiert.

Die in Nordhausen unter der musikalischen Leitung von Henning Ehlert gespielte Musical-Version von Paul Gordon (Musik und Gesangstexte) und John Caird (Buch und zusätzliche Gesangstexte) feierte im Jahr 2000 ihre Uraufführung am Broadway und war in deutscher Sprache in der Übersetzung von Sabine Ruflair erstmals beim Musical-Frühling 2018 im österreichischen Gmunden zu sehen. Die deutsche Erstaufführung fand nun wie geplant am 1. April 2022 im Theater Nordhausen statt, in Corona-Zeiten keineswegs selbstverständlich. Zwar müssen im Theatersaal zumindest aktuell noch weiterhin Masken getragen werden, doch das nimmt man gerne in Kauf, darf man doch dafür einen ganz besonderen Musicalabend erleben.

Genau wie im Roman, an den das Musical sehr eng angelehnt ist (manche Dialoge finden sich sogar fast wortwörtlich so im Roman) wird die Handlung rückblickend aus der Perspektive von Jane Eyre selbst erzählt, die zunächst als Beobachterin zu Beginn am Rand der Bühne steht und in Erinnerung an ihre Jugenderlebnisse ihrem jüngeren Ich zuschaut, bevor sie als erwachsene Jane selber Teil der Handlung wird.  Ein dramaturgisch gelungener Einfall, wird man so als Zuschauer*in doch geschickt von Jane selbst in ihre Geschichte hineingezogen und betrachtet die Geschehnisse durch ihre Augen. 

Die Inszenierung kommt recht düster daher, Regisseur Ivan Alboresi legt den Fokus eindeutig auf die dunkle Seite der Geschichte, was sich auch im Bühnenbild und den Kostümen von Pascal Seibicke widerspiegelt: Das Bühnenbild besteht hauptsächlich aus Zinnpaneelen nachempfundenen Säulen, die auf der Bühne hin- und herbewegt werden können und je nach Bedarf die unterschiedlichen Räumlichkeiten z. B. von Thornfield Hall darstellen. In Kombination mit dem kühlen Licht entsteht so eine kalte, nüchterne und dunkle Atmosphäre, die zwar einerseits die prächtigen und durchaus farbenfrohen Schilderungen des Romans vermissen lässt, andererseits aber durchaus stimmig die fehlende Herzenswärme der Orte und der Gesellschaft, sowie die Gefühle der Figuren perfekt einfängt. Zudem konzentriert man sich so ganz auf die Darsteller und ihr Spiel. Ähnlich verhält es sich mit den Kostümen, die ganz in schwarz, weiß und silber-grau gehalten und überdies keiner bestimmten Epoche zuzuordnen sind, was die Zeitlosigkeit der Geschichte unterstreicht. Brontës Themen wie die Rolle der Frau in der Gesellschaft, Suche nach Identität, Liebe und Vergebung sind heute noch ebenso aktuell wie in der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Was dem Stück fehlt, ist ein echter Ohrwurm, wie es sie beispielsweise in Stücken wie „Les Misérables“ oder „Rebecca“ gibt, an die man sich als Musical-Fan an manchen Stellen unweigerlich erinnert fühlt. Es gibt viele hübsche Melodien, die gut zu den Figuren passen und sie treffend charakterisieren, doch die meisten davon plätschern beim ersten Hören einfach vorbei. Man muss schon ein zweites Mal hinhören, um den ein oder anderen Song für sich zu entdecken. Erschwert wird dieser Umstand dadurch, dass im Programmheft leider keine Songliste zu finden ist, die die Zuordnung der Songs erleichtern würde. Hier muss man mühsam Google befragen und das englische Original bzw. die Songliste der Gmundener Fassung zu Rate ziehen, um herauszufinden, welcher Song einem nun besonders gut gefallen hat.

Ein Stück wie „Jane Eyre“ lebt natürlich vor allem von den Darstellern, die Janes Geschichte auf der Bühne zum Leben erwecken. Stellvertretend für die gute Leistung des gesamten Ensembles genannt werden sollen hier Andreas Bongard als „Butler“ bzw. „St. John“, Marian Kalus als „Richard Mason“, sowie Amelie Petrich, die als herzlich unsympathische „Blanche Ingram“ Opernliedchen trällert, und vor allem Maaike Schuurmanns als schräge Haushälterin „Mrs. Fairfax“, die mit ihrem schlechten Gehör für etwas Situationskomik sorgen darf, auch wenn das der Figur im Roman eigentlich nicht ganz gerecht wird. Die Kinderrollen sind mit Mitgliedern des Kinderchores mehrfach besetzt, hier überzeugte insbesondere die Konstellation Anne Kobayashi als „junge Jane“ und Miriam Stolze als Mündel „Adele“ in der zweiten Vorstellung.

Doch was wäre „Jane Eyre“ ohne Jane und ihr „zweites Ich“, Mr. Edward Fairfax Rochester? Beide Rollen sind mit Eve Rades und Jonas Hein hervorragend besetzt, sie schaffen es absolut überzeugend, die allmähliche Veränderung bzw. Entwicklung ihrer Figuren zu zeigen und die Beziehung dieser beiden so unterschiedlichen Charaktere ganz im Geist des Romans auf die Bühne zu zaubern: Eve Rades verleiht ihrer „Jane“ genau das richtige Gefühl, die richtige Entschlossenheit und Frische, so dass man sich mühelos mit ihr identifizieren kann, mit ihr mit fiebert und auf ein gutes Ende für sie hofft.

Einen besseren „Mr. Rochester“ als Jonas Hein hätte das Theater Nordhausen nicht finden können: Er berührt mit seinem Spiel und seiner wunderschönen Stimme und versteht es, die Zuschauer in seinen Bann zu ziehen. Man ist genau wie Jane von dem anfangs launischen und abweisenden Herrn von Thornfield Hall fasziniert und kann gar nicht anders, als sein Herz an ihn zu verlieren und seine Verzweiflung über sein Schicksal nachzuempfinden, auch wenn er natürlich Jane gegenüber in Bezug auf sein düsteres Geheimnis zunächst nicht ganz ehrlich ist. Es gelingt Jonas Hein wunderbar, schon mit der kleinsten Geste, einem Blick, einer Berührung oder schlicht der Art, wie er Jane beim Namen nennt, Edwards Gefühle spürbar zu machen. Wie wandlungsfähig er ist, darf er daneben in der Verkleidung der „Wahrsagerin“ unter Beweis stellen.

Am Ende steht die Erkenntnis „Liebe fordert Mut“. Genau den hat auch das Theater Nordhausen mit dieser Inszenierung glücklicherweise bewiesen. Das Ensemble wird am Schluss völlig zu Recht mit Standing Ovations belohnt. Der weite Weg nach Nordhausen lohnt sich auf jeden Fall, wer es zeitlich einrichten kann, sollte sich diese Inszenierung unbedingt anschauen!

Termine und weiter Informationen findet man unter www.theater-nordhausen.de


Ein Gastbeitrag von Andrea G.