Doktor Schiwago: Mitreißende Premiere in Lüneburg
Lüneburg, 16.11.2019: Krieg, Frieden, Liebe und Tod gehen besonders in der russischen Literatur Hand in Hand. Wirft man einen Blick auf die russische Geschichte, kann man nachvollziehen, warum gerade in diesem Land Tragik und Leid so viel Raum einnehmen. „Doktor Schiwago“ von Boris Pasternak begleitet, wie seine literarischen Vorgänger „Krieg und Frieden“ von Tolstoi und „Die Brüder Karamasow“ von Dostojewski, die Erlebnisse einer Person/Familie über einen längeren Zeitraum. Thematisiert wird dabei immer die gerade vorherrschende Situation im Land. Pasternak verlegt seine Geschichte in die Zeit vor und nach der Oktoberrevolution 1917. Er zeigt mit der Figur des Schiwago, wie es um das Leben eines Schriftstellers in dieser Zeit bestellt war. Stoff, der eines Nobelpreises würdig ist. Doch auf Druck der damaligen, russischen Regierung musste der Autor diese Anerkennung ablehnen. Der Roman erschien erst 1987 in seiner Heimat – 30 Jahre nachdem er geschrieben wurde.
Bereits 1966 wurde in Hollywood ein Film mit Motiven des Romans mit Omar Sharif, Julie Christie und Geraldine Chaplin in den Hauptrollen gedreht und mit fünf Oscars prämiert. Der Film ist bis heute einer, den man mindestens einmal gesehen haben sollte. 2015 folgte dann die Musicaladaption nach ähnlichen Motiven wie im Film, die jedoch am Broadway floppte. Im Januar 2018 wagte die Oper Leipzig den Schritt und zeigte das Stück als deutsche Erstaufführung. Theater in Pforzheim und Fürth folgten. Im Sommer 2019 wurde das Stück sogar auf den Open-Air-Bühnen in Tecklenburg und im österreichischen Gmunden gezeigt. Im deutschsprachigen Raum ist es also ein Erfolg. Am 16. November 2019 kam das Stück am Theater Lüneburg zur Erstaufführung.
Zuerst war ich doch skeptisch, mir das Stück noch ein drittes Mal anzusehen. Die Inszenierung in Leipzig 2018 war toll, die in Tecklenburg so gar nicht mein Fall (siehe Link unten). Letztendlich kaufte ich mir doch Karten für die Premiere in Lüneburg, was sich schon nach den ersten fünf Minuten als einzig richtige Entscheidung entpuppte. Der Auftakt mit „Schwarz-weiss“ bereitete schon Gänsehaut.
Die Inszenierung von Olaf Strieb, der seinerseits Intendant der Landesbühne Wilhelmshaven ist, lässt keine Wünsche offen. Die Geschichte, die von vornherein sehr viele Handlungsstränge besitzt, ist hier ohne langgezogene Umbauphasen umgesetzt. Oft verweilt ein Darsteller wie zu Eis erstarrt auf der Bühne, während die Erzählung einem anderen Raum gibt, um dann wieder auf den Punkt ins Geschehen einzugreifen. Die vielen Szenenwechsel gehen so Schlag auf Schlag ineinander über, ohne dem Stoff die nötige Tiefe zu entreißen. Man ist von Anfang bis Ende gefesselt. Da ist die Pause schon sehr lästig, da diese Unterbrechung einen total aus der Faszination reißt.
Unterstützt wird der schnelle Übergang zusätzlich durch das Bühnenbild von Barbara Bloch. Das Stück beginnt auf einem Friedhof und endet auch auf einem. So sind die ganze Zeit über links und rechts der Bühne Kreuze der orthodoxen Kirche zu sehen, Leben und Tod gehen nebeneinander her. Passend zu den unterschiedlichen Situationen werden Elemente eingeschoben, die schnell auf- und wieder abzubauen sind. Das wären z.B. die hohen Wände im Haus der Gromenkos und die kleine Nähstube von Lara und ihrer Mutter. Dieses reduzierte Bühnenbild ist dennoch eindrucksvoll und wird durch die Lichtstimmung und die Kostüme zu einem runden, optischen Gesamterlebnis.
Die Riege der Darsteller besteht aus Gästen und dem festen Ensemble des Theater Lüneburg. 19 Künstler sowie der Haus- und Extrachor stehen in einer oder mehreren Rollen auf der Bühne. Sie alle können überzeugen. Uns fiel an diesem Abend von keinem der SängerInnen ein einziger falscher Ton auf. Vom Hauptdarsteller bis zum Chor war der Abend für uns als Zuschauer ein Genuss. Wie schon erwähnt, diese Inszenierung in Lüneburg ist faszinierend und rührt zu Tränen. Falls es doch einen falschen Ton gab, dann wurde dieser aufgrund der Stimmung auf der Bühne und im Saal überhört und fiel gar nicht auf.
Allen voran steht ohne Zweifel Kristian Lucas in der Titelrolle. Ihm diese Position zu geben war eine sehr gute Entscheidung. Schauspielerisch sowie gesanglich kann er in jedem Moment überzeugen. Die Entwicklung vom jungen, träumerischen Arzt, der die Welt verbessern will, zu dem durch den Krieg gezeichneten Mann gelingt ihm nur allzu gut. Die Zerrissenheit zwischen der Liebe zu seiner Frau Tonia und der Faszination und der Liebe zu Lara stellt er ebenfalls sehr überzeugend dar.
Jeannine Michele Wacker ist als Tonia die liebende Ehefrau und Mutter. Sie bleibt ihrem Mann immer noch in Liebe verbunden, als sie längst weiß, dass es Lara gibt und was passiert ist. Sie harmoniert unheimlich mit Kristian Lucas, es ist einfach eine Freude, den beiden zuzusehen und zuzuhören. Trotz all der Traurigkeit, die die Roll der Tonia mit sich bringt, kann Jeannine es nicht lassen, dem Publikum ein Schmunzeln zu entlocken. In dem Moment, wenn sie ihren Schiwago mit dem Zug in den Krieg ziehen lassen muss, will sie ihn einfach nicht aus ihren Armen lassen und wird zu einem Klammeräffchen. Es gibt noch ein paar weitere Momente, in denen einem ein kleines Lächeln ins Gesicht gezaubert wird, was der Stimmung keinen Abbruch tut.
Dorothea Maria Müller ist als Lara nicht nur für Jurij Schiwago faszinierend, ihn lernt sie erst als Letzten kennen. Zuerst trat der Anwalt Viktor Komarovskij (Ulrich Kratz) in das Leben der jungen Frau. Dieser dreht sich ständig nach dem Wind und überlebt so alle Umwälzungen in Russland. Er verführte Lara, als sie noch ein Kind war, und kann bis zum Ende nicht von ihr lassen. Kratz stellt diese Figur so schleimig und hinterhältig da, man möchte ihn am liebsten ins tiefste Verlies sperren und den Schlüssel wegwerfen. Verarbeitet wird diese Affäre in Laras Leben mit dem Lied „Wenn die Geige sang“, welches dem Publikum in der Version von Dorothea Maria Müller Gänsehaut und Taschentuchalarm bescherte.
Dann ist da noch Laras Mann, Pawel (Pascha) dargestellt von Steffen Neutze, dessen Wandel vom Studenten zum skrupellosen Revolutionsführer überzeugend von Steffen Neutze interpretiert wird. Als alle denken, dass Pawel im Krieg umgekommen ist, wird er zum skrupellosen „Strelnikow“, der über Leichen geht. Seit Lara dem lebenslustigen Studenten erzählt hat, was Komarovskij mit ihr tat, ist der Hass gegen die russische Oberschicht in ihm gewachsen. Eine Welt, die solche Leute wie Komarovskij hervorgebracht hat, muss bekämpft werden. Pawel erzählt am Ende Doktor Schiwago, dass er immer nur Laras Liebe gewinnen wollte. Doch das ist ihm nie gelungen.
Alles in allem schafft es das kleine, heimelige Theater in Lüneburg den „großen“ Bühnen und Namen der Szene mit dieser Inszenierung von „Doktor Schiwago“ ganz schön Konkurrenz zu machen.
Zu sehen ist die Inszenierung in Lüneburg in der Spielzeit 2019/2020 noch bis zum 03. Mai 2020. Man muss sich sputen, denn an vielen Terminen gibt es nur noch Restkarten. Da kann man nur hoffen, dass „Doktor Schiwago“ in der Spielzeit 2020/2021 wieder mit auf dem Plan steht. Uns würde es sehr freuen.
Text: Nathalie
Bilder: Theater Lüneburg / (c) Andreas Tamme
Doktor Schiwago in Tecklenburg 2019
Das künstlerische Team
Musikalische Leitung Ulrich Stöcker
Inszenierung Olaf Strieb a. G.
Bühnenbild Barbara Bloch
Kostümbild Christine Bertl
Das Ensemble
Jurij Schiwago Kristian Lucas
Larissa „Lara“ Dorothea Maria Müller
Viktor Komarovskij Ulrich Kratz
Pawel, Strelnikow Steffen Neutze
Antonia „Tonia“ Gromeko Jeannine Michèle Wacker
Anna Gromeko, Kubaricha Dobrinka Kojnova-Biermann
Alexander Gromeko Wlodzimierz Wrobel
Tonia, neun Jahre alt Mia Jovanovic, Lena Olmützer
Jurij, zehn Jahre alt Tomek Endsin, Elias Riepenhausen
Lara als Schülerin Lara Franzen, Lotta Wroblewski
auch Sascha, Tonias und Jurijs Sohn und Katharina, Lara und Jurijs Tochter
Ein Priester , Funktionär 2, Markel, Diener Sascha Littig
Amalia, Laras Mutter Kirsten Patt
Nikolaj, ein Freund Jurijs Andrea Marchetti
Borja Kornakov, Staatsanwalt, Quartiermeister, Funktionär 1 Oliver Hennes
Studenten: Tusia Marcus Billen, Ilja Andrea Marchetti, Mischa Oliver Hennes, Gints Sascha Littig, Liberius, Janko, junger Bauer, junger Lebemann Timm-Moritz Marquardt, Krankenschwestern: Olga Franka Kraneis, Stepka Sarah Hanikel, Warja Elke Tauber, Fetisova Astrid Gerken
Schulygin, ein Passant Marcus Billen
Jelenka Astrid Gerken
Sprecher des Tribunals Oliver Hennes
Studenten, Soldaten, Partisanen, Bürgerinnen und Bürger, Hochzeitsgäste Haus- und Extrachor
Orchester Lüneburger Symphoniker
Termine:
16.11.2019 20:00 Uhr 22.11.2019 20:00 Uhr 24.11.2019 19:00 Uhr 03.12.2019 20:00 Uhr 06.12.2019 20:00 Uhr 18.12.2019 20:00 Uhr 26.12.2019 19:00 Uhr 23.01.2020 20:00 Uhr 01.02.2020 20:00 Uhr 09.02.2020 15:00 Uhr 16.02.2020 19:00 Uhr 22.02.2020 20:00 Uhr 29.02.2020 20:00 Uhr 20.03.2020 20:00 Uhr 18.04.2020 20:00 Uhr (Zusatzvorstellung) 03.05.2020 19:00 Uhr
Vorbericht vom 15.11.2019:
Doktor Schiwago – Theater Lüneburg – 2019
Am 16. November 2019 feiert das Musical von Lucy Simon (Musik), Michael Weller (Buch), Michael Korbie und Amy Powers (Gesangstexte) in der deutschen Übersetzung von Sabine Ruflair und Jürgen Hartmann am Theater Lüneburg im großen Haus Premiere.
Seit der deutschen Erstaufführung im Januar 2018 in Leipzig war das Stück bisher in Pforzheim (2018), Fürth, Tecklenburg und auch in Österreich beim Musical Frühling Gmünden (alles 2019) zu sehen. Jetzt zieht das Theater Lüneburg nach und bringt das Musical, welches, ebenso wie die Verfilmung des Pasternak-Romanes von 1965, die Liebesgeschichte von Juri Schiwago und Larissa „Lara“ Antipowa in den Vordergrund stellt, auf die Bühne. Die Geschichte beginnt, als Juri und Lara noch Kinder sind und zeigt dabei auch das Leben in Russland vor, während und nach der Revolution von 1917.
Wir wünschen dem gesamten Team in Lüneburg eine schöne Probenzeit, eine wundervolle Premiere und eine schöne Spielzeit.
Text: Nathalie