Der Besuch der alten Dame – Tecklenburg 2022

Deutschunterricht lebendig und emotional

Premiere: 22.07.2022 – Besuchte Vorstellung: 28.07.2022

© Freilichtspiele Tecklenburg/ Stephan Drewianka

Der Festspielsommer 2022 ist in Tecklenburg in vollem Gang. Nachdem Ende Juni SISTER ACT Premiere feierte (wir berichteten), folgte am 22. Juli 2022 die nächste Premiere mit dem BESUCH DER ALTEN DAME. Die gesamte Probenzeit für alle Beteiligten betrug lediglich 3,5 Wochen und da der Großteil der Darsteller*innen auch in den beiden anderen Stücken zu erleben ist, war das Vorhaben doch ziemlich sportlich, welchem sich Ulrich Wiggers als Regisseur stellen musste.

Die Glocke erklingt, das Ensemble betritt die Bühne, Stille und schließlich beginnt das Orchester unter der Leitung von Tjaard Kirsch mit dem Hauptmotiv der Alten Dame, bevor es mit „Glanz und Gloria“ losgeht. Die erste Gänsehaut läuft über den Körper.

Friedrich Dürrenmatts tragische Komödie DER BESUCH DER ALTEN DAME (1956) brachte ihm die finanzielle Unabhängigkeit und thematisiert u. a. Liebe, Rache, Geld, Gerechtigkeit und Verrat. Das Stück spielt in Güllen und erzählt die Geschichte von Claire Zachanassian, welche in ihre Heimatstadt zurückkehrt und Rache an ihrem ehemaligen Geliebten Alfred Ill nehmen will.

Die Kleinstadt Güllen ist pleite, Claire ist die einzige Rettung, denn diese hat von ihrem verstorbenen Ehemann Milliarden geerbt. Mit dem nötigen Geld kann man sich alles kaufen und so verspricht Claire den Bewohnern, dass sie 2 Milliarden gerecht unter allen Bewohner*innen aufteilen wird, wenn Alfred stirbt.

Das Entsetzen ist groß und das Verbrechen wird kategorisch abgelehnt, sinnbildlich durch die Vertreter der Stadt, den Bürgermeister (Politik), den Lehrer (Bildung), den Polizisten (Gesetz) und den Pfarrer (Moral). Dennoch beginnen die Bewohner maßlos Schulden zu machen. Sie gönnen sich neue Schuhe, einen Sportwagen, den teuersten Whiskey oder das neuste und smarteste Handy. Doch macht Geld glücklich?

© Freilichtspiele Tecklenburg/ Stephan Drewianka

Für Alfred bricht eine Welt zusammen. Er wird das Gefühl nicht los, dass Claire auf ihn ein Kopfgeld ausgesetzt hat mit dieser Äußerung.

Mathilde will indes ihrem Mann beistehen, doch sie ahnt nicht, dass Alfred immer noch Gefühle für Claire hat. Letztlich muss Mathilde erkennen, dass Alfred damals Claire hat sitzen lassen, weil Mathilde augenscheinlich mehr Geld hatte. Und nun? Wird sie bei der Gerichtsverhandlung am Ende zur Verräterin?

Auch Alfreds bester Freund Gerhard Lang steht ihm zunächst zur Seite. Doch als Polizist sind ihm die Hände gebunden, denn eine Anstiftung zum Mord sei Claires Forderung in seinen Augen nicht. Vielmehr erinnert er sich mit Alfred an die guten alten Zeiten.

Der schwarze Panther von Claire entwischt kurzerhand und das gesamte Dorf ist auf der Jagd nach dem Wildtier. Alfred denkt, dass diese Jagd ihm gilt und wendet sich in seiner Not an den Bürgermeister Matthias Richter. Doch er erhält keine Hilfe, vielmehr muss er erkennen, dass dieser bereits Pläne schmiedet für seinen Anteil des Geldes. Alfred ist von Angst getrieben und sucht Zuflucht bei Johannes Reitenberg in der Kirche. Dort erhält er erstmals Zuspruch und Unterstützung. Aber kann der Pfarrer den materiellen Verlockungen widerstehen?

Alfred ist zunehmend verzweifelt und sucht Claire. Diese findet er im Wald an ihrem damaligen Lieblingsplatz. Er ist fest entschlossen sie zu töten, doch es kommt vielmehr zu einem Handgemenge, einer innigen Umarmung und einem Kuss. Kann Claire den Schatten der Vergangenheit überwinden?

© Freitlichtspiele Tecklenburg/ Stephan Drewianka

Ulrich Wiggers gelingt es erneut in Tecklenburg ein Meisterwerk auf die Bühne zu bringen. Nach DOKTOR SCHIWAGO zählt DER BESUCH DER ALTEN DAME in der Szene doch eher zu jenen Stücken, die es schwer haben sich durch zusetzten. Wiggers versetzt die Szenerie in die Gegenwart, dies wird vor allem im Laden von Ill deutlich. Dort gibt es Smartphones oder Eis einer bekannten Marke. Darüber hinaus gibt es Videotelefonie zwischen dem Pfarrer, dem Bürgermeister, dem Polizisten und dem Lehrer. Aber auch Claire setzt auf Aktien an der Börse. Alles spielt im hier und jetzt.

Die Pausen zwischen den Szenen wurden, wie man es von Ulrich Wiggers gewohnt ist, gestrafft, sodass eine Szene in die nächste übergriff und der große Szenenapplaus bewusst nur an bestimmten Stellen möglich wurde. Die Zuschauer*innen konnten so tiefer in die Handlung eintauchen und ihren eigenen moralischen Kompass justieren.

Die Musik von Moritz Schneider bietet leitmotivische Arbeit mit Ohrwurmcharakter. Verschiedene Musikstile finden Verwendung, so gibt es z. B. beim „Trio Infernale“ Samba-Rhythmen und Tango-Klänge zu hören. Verschiedene Reprisen erklingen ebenfalls immer wieder im zweiten Akt. Außerdem ist das Musical an vielen Stellen durchkomponiert.

Das Ensemble in Tecklenburg ist grandios besetzt. Da spielt es keine Rolle mehr, wer ursprünglich für bestimmte Rollen vorgesehen war. Aufgrund der Corona-Pandemie musste auch dieses Musical zwei Jahre lang auf seine Deutschlandpremiere warten. Folglich verschoben sich verschiedene Engagements bei den Darsteller*innen und es musste an der ein oder anderen Stelle neu besetzt werden.

© Freilichtspiele Tecklenburg/ Stephan Drewianka

So wurde nun Masha Karell zur Claire Zachanassian, nachdem man sie bereits in Thun und Wien als Mathilde Ill erleben konnte. Durchtrieben von Rachegelüsten brilliert Karell in ihren Solo-Parts, aber auch in den Duetten. „Die Welt gehört mir“ und das Duett „Liebe endet nie“ zählen zu ihren Highlights an diesem Abend.

Thomas Borchert und Navina Heyne als Ehepaar Ill: Borchert begeistert mit seinem Schauspiel des am Boden zerstörten Alfreds, aber auch des liebenden Vaters. Alfreds Lügen in der Jugend bringen ihn in einen Gewissenskonflikt. Gesanglich harmoniert Borchert grandios mit Karell, aber auch sein Solo „Ich hab die Angst besiegt“ begeistert auf ganzer Linie.

Mathilde Ill wird von Navina Heyne verkörpert. Von der ersten Sekunde an spürt der Besucher, dass Mathilde vom Besuch Claires nicht begeistert ist. Heyne schmückt diese doch recht kleine Rolle grandios aus. Sie schafft es vor allem im zweiten Akt, den Wandel der besorgten und beistehenden zur wütenden und enttäuschten Ehefrau akzentreich in Szene zu setzen. Ihre Soli „Ich schütze dich“ und „Ich wein um dich“ gehen zu Herzen dank Heynes glockenklarem Sopran. Diese beiden Soli unterstreichen zudem die Entwicklung der Mathilde.

Fabio Diso und Katia Bischoff als die Schattenbilder der Vergangenheit, nämlich als junger Alfred und junge Claire, verzaubern mit ihrem Spiel, ihrem Tanz und ihrem Gesang. Der Regie ist es gelungen, diesen Part stärker herauszuarbeiten, sodass die Flashbacks der Handlung gut tun und den Konflikt zwischen Alfred und Claire besonders hervorheben. Vor allem die Interaktion zwischen Jung und Alt begeistert und berührt.

Heimliche Stars der Inszenierung sind das „Trio Infernale“ bzw. in unserer besuchten Vorstellung das „Duo Infernale“. Andrew Chadwick als Roby und Jochen Schmidtke als Loby sind die Bodyguards von Claire Zachanassian. Viel zu tun haben sie in Güllen nicht und das geben sie auch im 2. Akt zum Besten. Zurecht bekommen sie für ihre tänzerische und gesangliche Leistung den größten Szenenapplaus.

Die Choreografien von Bart de Clercq fügen sich in das Geschehen problemlos ein. Sie unterstützen teilweise die Handlung, wie z. B. bei „Die Welt gehört mir“ oder „Ungeheuerlich“.

Der Ton an diesem Abend war durchweg gut, allerdings hätte man sich gewünscht, dass an der ein oder anderen Stelle wieder etwas heruntergeregelt worden wäre. Gerade bei den langen Endtönen dröhnte es dann leider doch manchmal im Ohr (Sitzplatz Reihe 25, Mitte).

Jens Janke war auch beim BESUCH DER ALTEN DAME für das Bühnenbild zuständig. Erneut gelingt ihm ein detailverliebtes, ruhiges Bühnenbild. Im Zentrum steht das Hotel „Zum goldenen Apostel“, am Torbogen rechts steht die Polizeitstation und der Bahnhof, am hinteren Torbogen die Kirche und auf dem Brunnen befindet sich der Laden der Familie Ill. Anders als bei SISTER ACT müssen hier weniger Kulissen geschoben werden. Lediglich die Bank wird zum Wanderobjekt, welche aber ideal in die Choreografien oder das szenische Geschehen eingebaut wird.

DER BESUCH DER ALTEN DAME ist noch bis zum 09. September 2022 in insgesamt 17 Vorstellungen bei den Freilichtspielen Tecklenburg zu erleben. Tickets gibt es an allen bekannten VVK-Stellen oder an der Theaterkasse.

Weitere Impressionen

CAST & CREW

  • Regie: Ulrich Wiggers
  • Musikalische Leitung: Tjaard Kirsch
  • Bühnenbild: Jens Janke
  • Kostüme: Karin Alberti
  • Choreographie: Bart De Clercq
  • Claire Zachanassian: Masha Karell
  • Alfred Ill: Thomas Borchert
  • Mathilde Ill: Navina Heyne
  • Matthias Richter (Bürgermeister): Martin Pasching
  • Klaus Brandstetter (Lehrer): Alexander di Capri
  • Johannes Reitenberger (Pfarrer): Benjamin Eberling
  • Gerhard Lang (Polizist): Andreas Goebel
  • Loby: Jochen Schmidtke
  • Toby: Michael B. Sattler
  • Roby: Andrew Chadwick
  • Die junge Claire: Katia Bischoff
  • Der junge Alfred: Fabio Diso
  • Lena: Lasarah Sattler
  • Ensemble: Jan Altenbockum, Jürgen Brehm, Lukas Haiser, Zoltan Fekete, Mathias Meffert, Julian Schier, Tamara Peters, Dominique Aref, Jennifer Kohl, Esther-Larissa Lach, Lara Schitto, Birgit Widmann

TRIGGER-HINWEIS

Wir von Bühnenlichter.de möchten an dieser Stelle einen Trigger-Hinweis zum BESUCH DER ALTEN DAME aussprechen. Das Thema Tod sowie seelische Gewalt stehen durchaus im Mittelpunkt des Geschehens und werden entsprechend mit der Musik verstärkt. Gerade im 1. Akt wird dies besonders deutlich.


Artikel & Fotos in der Galerie von Anna-Virginia. Fotos im Artikel von Stephan Drewianka/ Freilichtspiele Tecklenburg