Dear World – Deutschsprachige Erstaufführung dieser Fassung

„Die Traurigkeit fliegt auf den Flügeln des Morgens dahin – und aus dem Herzen der Dunkelheit kommt das Licht!“ (Die Stumme)

© Sarah Jonek

Premiere: 01.10.2022 – besuchte Vorstellung: 03.10.2022

Das Theater Bielefeld arbeitet in der Spielzeit 2022/2023 an der „Wiederverzauberung der Welt“ und dies gelingt mit Jerry Hermans DEAR WORLD auf Anhieb. Gezaubert wird hier allemal. DEAR WORLD wurde 1969 uraufgeführt und ist das sechste Musical, welches aus Hermans Feder stammt und am Broadway aufgeführt wurde. Das Bielefelder Kreativteam rund um Jon Philipp von Linden entschied sich bewusst für die kammerartige, kleinere Version des Stückes von David Thompson.

In Bielefeld stieß man Anfang des Jahres auf das Stück, sicherte sich im April die Rechte beim Verlag und die beiden Übersetzerinnen Melanie Haupt und Frederike Haas legten los, damit am 01. Mai 2022 die neue Übersetzung beim Verlag abgegeben werden konnte. Eine kurze Zeitspanne für die Übertragung aus dem Englischen. Man teilte sich die Aufgaben auf. Melanie Haupt übernahm die Dialoge, Frederike Haas die Songs und so konnten auch bereits Ende August die ersten Proben starten.

DEAR WORLD spielt in Paris, im Café Francis. Ein Gast fühlt sich von einer Stummen belästigt und hat, dem Wetter angepasst, schlechte Laune. Die Einzige, die gute Laune hat, ist die Gräfin Aurelia. Aurelia ist im Café zu Hause und die „Irre von Chaillot“ oder eben doch eine „Frau mit Verstand?“. Der Gast hingegen wartet ungeduldig auf ein Glas Wasser. Als er dieses endlich erhält, schmeckt er im Wasser Öl. Für ihn ist klar, das Café steht auf einem Ölfeld.

Kurz darauf treffen drei Präsidenten im Café mit ihrem Assistenten Julien ein. Sie sind auf der Suche nach neuen Investitionsideen für ihr enormes Kapital. Der Gast belauscht sie und stellt sich ihnen als Prospektor vor mit entsprechender Geschäftsidee. Die drei Präsidenten sind begeistert und stimmen zu. Allerdings muss das Café weg. Hierfür soll Julien eine Bombe im Café platzieren. Julien nimmt den Auftrag nur unter Protest an und entfernt sich, genauso wie die Herren.

© Sarah Jonek

Schließlich wird Julien vom Polizeiinspektor als „Ertrunkener“ gerettet. Alle im Café leisten ersten Hilfe und als Julien wieder erwacht, wird klar, dass er die Bombe in die Seine geworfen hat. Er fürchtet die Rache der Präsidenten. Währenddessen beobachtet die Gräfin, dass Nina sich in Julien verguckt hat und erinnert sich an ihren früheren Geliebten.

Als die Gräfin schließlich mitbekommt, dass Julien von den Präsidenten erpresst wird, will sie der Sache mit dem Erdöl auf den Grund gehen. Dafür benötigt sie das Wissen des Abwasserkanal-Mannes, welchen sie gemeinsam herbeisteppen. Der Abwasserkanalmann öffnet schließlich der Gräfin die Augen und stellt fest, dass sich die Welt verändert hat. Es gibt für alles Makler und die Welt hat sich quasi einer globalen Zerstörung verschrieben.

„Helft mir, die Welt zu retten. Heute noch!“

Aurelia will schließlich die Welt retten. Ihre Angestellten und Freunde wollen ihr helfen, bezweifeln aber, dass sie zu acht gegen die Bösen ankommen. Doch ein Einzelner kann manchmal mehr beschicken als eine große Gruppe und so bereiten sie sich vor. Wie lässt sich das Böse am besten verbannen? Mit einem Prozess. Dieser wird zunächst geprobt, bevor die Präsidenten um 15 Uhr im Café eintreffen.

Julien wird von den Präsidenten zur „Heimkehr“ beglückwünscht, Aurelias Brief nehmen sie zur Kenntnis. Währenddessen besucht der Abwasserkanal-Mann Aurelia in ihrer unterirdischen Wohnung und weiht sie in ein Geheimnis ein. Mit diesem Geheimnis gelingt es Aurelia schließlich, am Ende das Böse von der Welt zu verbannen.

© Sarah Jonek

Thomas Winter ist es mit seiner Regie wieder einmal gelungen, für einen wunderschönen Abend zu sorgen. DEAR WORLD ist nicht das typische Unterhaltungsmusical, wie manch ein anderer Klassiker und kommt auch erst im Verlauf des 1. Aktes in Fahrt, dennoch wird der Finger in die Wunde gelegt und verdeutlicht, was aus der Welt geworden ist. In Anbetracht der aktuellen Ereignisse in Europa ist DEAR WORLD folglich zeitlos und mahnend zugleich. Wäre es doch in der Realität auch so einfach, die „bösen Menschen“ verschwinden zu lassen und am Ende die Liebe siegen zu lassen.

Die Inszenierung verbindet klassische Elemente mit modernen. Dies wird zum einen an der Gräfin deutlich, welche von sich selbst zugibt, die Zeitungen aus dem Jahr 1903 zu lesen. Sie lebt sprichwörtlich in ihrer eigenen Welt in der Vergangenheit. Die übrigen Protagonisten sind zeitlos und könnten ebenso dem Hier und Jetzt entstammen.

Ebenso zeigt sich das Moderne im Bühnen- und Kostümbild von Toto, denn das Café Francis wurde dem Bielefelder Kachelhaus nachempfunden. Die Kostüme der Madames erinnern an eine längst vergangene Zeit, wohingegen Julien einen schlichten Anzug mit lila Hemd und Hut trägt.

© Sarah Jonek

Besonders deutlich wird die Verbindung aber bei den Choreografien von Jerome Knols. Hier gibt es nicht nur klassischen Stepptanz sowie Walzer- und Tangoschritte, sondern auch modernen Contemporary. Dieser wird von Jennifer Pöll als Die Stumme im ersten Akt zu „Dann will ich´s nicht erfahren“ auf der oberen Ebene des Cafés getanzt. In Verbindung mit dem Gesang der Gräfin (Frederike Haas) berührt dieser Tanz. Eine Verbindung von Tanz, Gebärdensprache und Gesang – das gab‘s bisher noch auf keiner Musicalbühne.

DEAR WORLD kommt in dieser Version mit 9 Darsteller*innen für 13 Charaktere aus. Außerdem wurden einige Rollen genderneutral besetzt. So wird Gabrielle („Irre von Sainte-Sulpice“) von Carlos H. Rivas verkörpert und Cornelie Isenbürger tritt als Präsident auf.

Frederike Haas ist nicht nur Übersetzerin des Stückes, sondern brilliert ebenso als Gräfin Aurelia. Sie hat die Fäden in der Hand und beweist, dass eine Frau mit Verstand binnen eines halben Tages Probleme lösen kann. Sie ist die „Irre von Chaillot“, welche stets positiv die Welt betrachtet und mit der veränderten Welt zurechtkommen muss. Ihr Solo „Dann will ich‘s nicht erfahren“ berührt, vor allem in Kombination mit dem Tanz von Jennifer Pöll. Aber auch ihr „Küss sie jetzt!“ am Ende des zweiten Aktes berührt zutiefst.

© Sarah Jonek

Rebecca Lorenz als Nina und Michael B. Sattler als Julien können mit ihrem Schauspiel sowie Tanz überzeugen. Leider ist dem Liebespaar des Stückes kein Duett gegönnt, aber dafür verzaubert einen Lorenz mit ihrem Solo „Ich sagte nie, ich lieb´ dich“ und Sattler mit seinen Gesangsparts in den Ensemblenummern.

Die heimliche Hauptrolle hat Jennifer Pöll als Die Stumme. Pöll ist in jeder Szene mit ihrer Gestik und Mimik präsent. Man kann gar nicht anders, als ihr zu folgen. Dazu die Gebärdensprache, welche von den übrigen Protagonisten übersetzt wird und bei „Jemand hat dich sehr verletzt, Welt“ zu einem Höhepunkt der Ensemblenummern wird. Wenn Pöll aber schließlich am Ende ihren einzigen Satz sagt, treibt dies doch das ein oder andere Tränchen ins Auge.

Jens Janke und Alexander von Hugo schlüpfen gleich in zwei Rollen. Janke ist als Präsident und Polizist zu erleben, von Hugo als Präsident und Kellner. Das Zusammenspiel der beiden ist auf den Punkt. Ob im Ensemble oder in einzelnen Sequenzen – man schaut den beiden immer wieder gerne zu. Von Hugo kann seine Liebe zum Stepptanz bei „Bisschen Mitleid tät‘ den Reichen gut“ nicht verbergen, wenn er zunächst seinem Kollegen Weiler fasziniert auf die Füße schaut und schließlich mitsteppt.

Dirk Weiler nimmt man den Abwasserkanal-Mann sofort ab. Er überzeugt auf ganzer Linie. Ob der Abwasserkanal-Mann sich in die Gräfin Aurelia verguckt hat, bleibt offen.

© Sarah Jonek

DEAR WORLD ist in gewisser Weise ein Märchen mit Sozialkritik, was aktueller kaum sein könnte. Auch wenn in Bielefeld die kleinere Version gespielt wird, so kommt diese ebenso opulent daher dank der Bielefelder Philharmoniker im Orchestergraben unter der Leitung von William Ward Murta.

DEAR WORLD ist bis März 2023 am Theater Bielefeld zu erleben. Tickets gibt es direkt über den Online-Shop des Theaters oder vor Ort an der Theater-/Abendkasse.

Wir bedanken uns beim Theater Bielefeld für die Einladung und wünschen für die weitere Spielzeit alles Gute!


Artikel von Anna-Virginia