Premiere West Side Story Kassel, 20.01.2018
„Ihr wart niemals so jung wie ich“
1957 wurde das Stück zum ersten Mal der Welt präsentiert und hat in den vergangenen 60 Jahren nichts an Aktualität verloren. Man kann den Handlungsstrang um die verfeindeten Straßengangs in jedes Zeitalter, jedes Land und jede Epoche versetzen. Nun, das Vorbild ist die Geschichte von „Romeo und Julia“, welche zu Shakespeares bis heute bekanntesten Stücken gehört und in dem der Streit zweier Familien einem stürmisch und jung verliebten Paar den Tod bringt. Ein Drama, welches Seinesgleichen sucht.
„West Side Story“ ist zeitlos. Im Original sind es die Nachkommen ehemaliger Einwanderer, die ihr Recht als Amerikaner sehen und mit den Kindern der frisch aus Puerto Rico übersiedelten Familien im Clinch liegen. Auf heute und auf Deutschland versetzt wären es beispielweise die Kinder der osteuropäischen Gastarbeiter, bei denen vor zwei Generationen ein Familienteil deutsch war, die sich mit den Kindern der syrischen Flüchtlinge in die Haare bekommen.
Ebenso wie der Streit zwischen den Jugendlichen ist auch die Gewalt ein Problem. Der G-20 Gipfel ist ein Beispiel dafür oder auch der Drang, jemanden einfach zu verprügeln, damit man für das Internet „ein cooles Video“ hat. Besonders in den sozialen Brennpunkten der Großstädte eskaliert diese Gewalt immer wieder. Dort entlädt sich alle Wut, die sich angesammelt hat. Selbst vor den Hütern des Gesetzes wird kein Halt gemacht. Nehmen die Jugendlichen aus der West Side ihren „Officer Krupke“ noch nur mit Gestik, Mimik und Worten auf die Schippe, werden die heutigen angespuckt und verprügelt. Das Programmheft zum Musical befasst sich ebenfalls mit diesen Themen und wirft mit einem Beitrag von Christian Steinbock einen Blick auf die Entstehungsgeschichte des Musicals.
Wer hat Schuld?
In der Inszenierung von Philipp Rosendahl wird dem Publikum am Ende klargemacht, dass alle an den Ereignissen Schuld tragen. Alle haben Blut an den Händen und ihnen stockt der Atem und die Stimme ist weg. Drei Tote und ein unschuldiges Mädchen, das gelernt hat zu hassen. Dies ist das Resultat der rivalisierenden Gangs, hervorgerufen durch den ewigen Streit um die Herkunft und die Farbe der Haut – im hier und jetzt. Die Situation soll wachrütteln. Ganz ursprünglich war der Gedanke von den Machern der „West Side Story“, diesen Konflikt zwischen einer katholischen und jüdischen Glaubensgruppe umzusetzen, was aber verworfen wurde. So entstand die Geschichte, die wir heute kennen und die durch die Verfilmung in unseren Köpfen eingeprägt ist, obwohl der Film auch einiges durcheinanderwirft.
Im Bühnenbild von Daniel Roskamp sind viele Schlupfwinkel vorhanden. Auf der einen Seite sind die großen Abwasserrohre zu finden, in denen die Jets wie die Sharks verschwinden, um auf der anderen Seite wieder in Doc´s Laden oder dem puertorikanischen Brautmodengeschäft aufzutauchen und umgekehrt. Auch gibt es Seiteneingänge und man kann beide Elemente von innen heraus bis ganz nach oben besteigen. Dies passiert, während die Wände stehen, sich im Kreise drehen oder vor-, neben- und hintereinander verschoben werden. Der Flittervorhang, der sich hinter dem umgedrehten „S“ des offenen Schriftzuges „West“ befindet, bereitet manchen der Protagonisten hin und wieder Schwierigkeiten, weil sie in ihm hängenbleiben. Mal schaffen sie es, sich selbst zu „befreien“, manchmal wird dabei geholfen. Später liegen sogar Überbleibsel davon auf der Bühne. Doc´s Laden ist das umgedrehte „T“, der Querstreifen dient als Theke und im langen Teil des „T“ „thront“ Doc strickend in einem alten Barbiersessel über der Szene. Dort wird Tony später mitgeteilt, dass seine Maria angeblich von Chino ermordet wurde.
Im umgedrehten „W“, welches jetzt ein „M“ ist, hängen die Hochzeitskleider die Anita, Bernardos Freundin (Anna Thorén), Maria und die anderen Mädchen der Puertorikaner, Tag ein, Tag aus nähen. Aus dem „e“ wird Marias Zimmer. Dieses Bühnenbild ist also multimedial nutzbar und erfüllt viele Zwecke.
Die „Rohrseite“ wird zum Tanzsaal, in dem Tony und Maria sich zum ersten Mal begegnen, die Seite mit dem umgedrehten „West“-Schriftzug zum Kampfplatz unter der Autobahn. Applaus dafür, dass jeder zur richtigen Zeit am richtigen Ort immer wieder auf der Bühne erscheint. Ergänzend zum Tanzsaal und einigen anderen Bildern fährt von oben immer wieder eine Armada von Disco-Kugeln in die Szenen. Zusammen mit dem Lichtdesign von Albert Geisel bestrahlen diese den ganzen Theaterraum.
Gelungene Choreografien, ungewöhnliche Ausstattung
Besonders zu erwähnen ist die Choreografie von Volker Michel und allen voran die Umsetzung im Ensemble, wobei mir die Jet-Boys am besten gefallen haben. Sie ernteten meines Erachtens am Ende auch den meisten Applaus. Die Shark-Boys können ebenfalls überzeugen, schon alleine weil bei ihnen der Großteil der Mitglieder aus dem Tanzensemble des Theater Kassel stammt. Mit „Gee! Officer Krupke“ bekommen die Jets sowieso den Showstopper überhaupt reserviert – dagegen müssen alle anderen einpacken. Hier sticht für mich besonders Timothy Roller, der den “Action” verkörpert, heraus. Und das obwohl, wie schon erwähnt, dieser Showstopper ein Geschenk für alle “Jets” ist. Anders als wie im Film, der sich bei vielen ins Gedächtnis eingeprägt hat, nehmen die Kids den Polizisten erst nach dem Tod von Riff (Tom Schimon) und Bernardo (Rupert Markthaler (Premiere)/ Sascha Luder) auf die Schippe.
Bei „I feel pretty“ dürfen die Mädchen der Sharks futuristische Roboterbewegungen auf die Bühne bringen. Dies erinnert nun noch mehr an die Eröffnungsszene von „WE WILL ROCK YOU“, denn der Stil der Kostüme von Brigitte Schima und die Frisuren der Jugendlichen, die sich nicht einen Deut bewegen, erinnern stark an die „Ga-Ga-Kids“ vom Anfang des Queen-Musicals.
Die Jets sind in blau, gelb und dem aus diesem Farbmix resultierendem grünen Farbtönen gehalten. Bei den Sharks dominiert vor allem der Ton rot, aber auch schwarz und weiß. Auf einigen der Kleider kann man sogar Markenschriftzüge einer Sportbekleidungsfirma und einer amerikanischen Getränkemarke entdecken (nein, nicht das koffeinhaltige Getränk mit CC sondern das mit den vielen „P“ und einem Doktortitel).
Ein sehr, sehr modernes Element ist die Verwendung eines Videos, das auf die komplette sichtbare Bühne projiziert wird und Tonys (Alp)-Traum darstellt. Dieses geht über in das von Anybodys (Tina Haas) gesungene „Somewhere“ und endet mit dem wiederholten Kampf von Riff und Bernardo.
Ungewöhnlich ist, dass das ganze Stück in englischer Sprache aufgeführt wird. Hier wird zudem der Slang, der auf den Straßen New Yorks gesprochen wird, eingesetzt. Für die Darsteller der puertorikanischen Jugendlichen wurde sogar ein Sprachtrainer eingeflogen, der mit ihnen den spanischen Akzent einstudierte.
Das absolute Highlight des Abends ist jedoch das Staatsorchester Kassel. Der musikalische Leiter Alexander Hannemann hat dieses voll im Griff und auch das Ensemble folgt jeder seiner Handbewegungen. Der Applaus am Schluss, als das Orchester dann auf der Bühne erscheint, ist wirklich mehr als verdient. Der pure Genuss. Der Klang fliegt einem nur so um die Ohren – und das ohne die Sänger auf der Bühne zu übertönen, aber mit einer Wucht, dass es die reinste Freude ist.
Unterm Strich:
Wer offen für eine neue, modernere Verpackung des Stoffes ist, einem klasse Orchester lauschen möchte und gerne viele Tanzchoreografien auf der Bühne sieht, ist bei der „West Side Story“ in Kassel im Jahr 2018 gut aufgehoben. Durchaus kommen in dem Stück auch Freunde der Oper zu einem schönen Abend, allein schon durch die Besetzung des Tony (Daniel Jenz (Premiere)/ Michael Pflumm) und der Maria (Judith Caspari / Anna Nesyba (Premiere)) mit Protagonisten dieser Stilrichtung.
Zum jetzigen Zeitpunkt, eine Woche nach der Premiere, sind nur noch ungefähr 20 Karten für die letzten drei Vorstellungen im OnlinePortal des Staatstheater Kassel erhältlich. Bei den anderen Vorstellungen wird die Option empfohlen, an der Abendkasse nachzufragen, ob es noch Eintrittskarten gibt.
Eine erfolgreiche Spielzeit ist dem Staatstheater Kassel damit schon vorprogrammiert. Wir sagen an dieser Stelle herzlichen Dank für die Einladung zur Premiere.
Text: Nathalie
Bilder: N. Klinger (Pressedownload Staatstheater Kassel)
West Side Story
Musik von Leonard Bernstein | Gesangstexte von Stephen Sondheim
In englischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Inszenierung: Philipp Rosendahl
Choreografie: Volker Michl
Bühne: Daniel Roskamp
Kostüme: Brigitte Schima
Sounddesign: Heiko Schnurpel
Dramaturgie: Christian Steinbock
Licht: Albert Geisel
ORCHESTER: Staatsorchester Kassel
TANZ: Tanztheater
Besetzung
Maria, Bernardos Schwester: Judith Caspari / Anna Nesyba (Premiere)
Tony, Riffs Freund von der Gruppe der “Jets”: Daniel Jenz (Premiere)/ Michael Pflumm
Riff: Tom Schimon
Action: Timothy Roller
A-Rab: Andreas Langsch
Baby John: Manuel Dengler
Snowboy: Safet Mistele
Big Deal: Jan Rogler
Diesel: Victor Rottier
Graziella: Cree Barnett Williams
Velma: Alessia Ruffolo
Clarice: Gotaute Kalmataviciute
Anybodys: Tina Haas
Bernardo, Anführer der “Sharks”, Marias Bruder: Rupert Markthaler (Premiere)/ Sascha Luder
Chino, sein Freund: Benedikt Ströher
Pepe: Ben Cox
Indio: Shafiki Sseggayi
Luis: Sebastian Zuber
Anxious: Luca Ghedini
Nibbles: Dhimas Aryo Satwiko
Anita, Bernardos Freundin: Anna Thorén
Rosalia: Dalma Viczina
Consuelo: Janina Moser / Amani Robinson
Francisca: Michèle Fichtner
Estella: Zoe Gyssler
Doc | Glad Hand: Dieter Hönig
Krupke: Bernhard Modes
Termine:
20.01.18, 19.30
27.01.18, 19.30
28.01.18, 16.00
11.02.18, 18.00
16.02.18, 19.30
18.02.18, 18.00
24.02.18, 19.30
02.03.18, 19.30
03.03.18, 19.30
11.03.18, 18.00
10.05.18, 19.30
27.05.18, 18.00
10.06.18, 19.30
20.06.18, 19.30
Quelle: Staatstheater Kassel