Les Misérables 2018 in Tecklenburg

Umjubeltes Comeback eines Welterfolgs

Premiere: 22. Juni 2018 – rezensierte Vorstellung: 30. Juni 2018

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Das Historien-Musical „Les Misérables“, basierend auf der Romanvorlage von Victor Hugo, konnte man zuletzt 2006 an der Freilichtbühne in Tecklenburg erleben. Damals mit Chris Murray als Jean Valjean, Marc Clear als Javert u.v.m.. 12 Jahre später kehrt das Musical aus der Feder von Boublil und Schönberg zurück nach Tecklenburg und wartet mit einem bombastischen Ensemble und einer fantastischen Inszenierung auf.

Exakt diesen Umstand nahm das Team von Bühnenlichter zum Anlass, sich in dem idyllischen Ort zu treffen, und aus buchstäblich verschiedenen Blickwinkeln die Vorstellung am 30. Juni 2018 zu genießen.

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Bereits bei der Pfingstgala, Ende Mai, gaben Patrick Stanke, Kevin Tarte und Milica Jovanovic erste Einblicke in ihre Charaktere. Wenige Wochen später präsentieren die Verantwortlichen rund um Ulrich Wiggers (Regie), Tjaard Kirsch (Musikalischer Leiter) und Kati Heidebrecht (Choreografie) das komplette Ergebnis. Die vierte Vorstellung war bis auf den letzten Platz ausverkauft und das zu Recht. Anhaltende Ovationen noch vor dem Beginn des Stückes geben an diesem Samstagabend Vorschusslorbeeren und spornen das komplette Team zu Höchstleistungen an.

Ähnlich wie bei den Inszenierungen der letzten Jahre, stellt eine Open-Air-Produktion die Kreativen wieder vor neue Herausforderungen. Das fängt bei der täglich wechselnden Akustik an und endet bei der reduzierten Technik auf einer Freilichtbühne. Wie soll da ein solches Werk realistisch dargestellt werden? Ulrich Wiggers gelingt dies mit seinem Team mal wieder auf eine ganz besondere, fast magische Art und Weise. Der Tecklenburger Zauber zieht sich durch alle Abteilungen. Die möglichen Register werden alle gezogen.

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Betrachten wir zunächst das Bühnenbild von Susanna Buller, sowie die Kostüme von Karin Alberti. Einige Elemente erinnern auf beiden Seiten an die Musicalverfilmung von 2014 mit Hugh Jackman, Anne Hathaway und Russell Crowe in den Hauptrollen. Bis ins kleinste Detail wurde hier wieder tolle Arbeit geleistet. Die linke Bühnenseite verwandelt sich drehbar zunächst in das Haus des gutmütigen Bischoffs (Florian Soyka), welcher Valjean Unterkunft und Nahrung gewährt und ihm später, als dieser sich großzügig an dessen Silber bedient und von der Gendarmerie geschnappt wird – ohne zu zögern aus der Klemme hilft. Im späteren Verlauf dient sie als Hauptquartier der Studenten, dem so genannten ABC Café.

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Die riesige Freifläche mit angedeuteten Häusern und Fabriken im Hintergrund, bietet unendliche Möglichkeiten und Platz für das – wie immer – riesige Ensemble, welches mit den Szenen, in welchen es die gesamte Bühne bespielt besonders punkten kann. Diese Augenblicke, wenn die große Fläche mit Menschen gefüllt ist, sind magisch und wirken zu keiner Zeit unkoordiniert. Detailverliebt zeigen Körbe am Beginn die Jahreszahl und auch im späteren Verlauf des Musicals wird deutlich, wie viele Jahre inzwischen ins Land gegangen sind. Dies zeigt sich auch an den Kostümen, welche mit viel Aufwand den Alterungsprozess der Protagonisten nachvollziehen lassen.

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Die Choreographien von Kati Heidebrecht erzeugen Gänsehaut, gerade in den großen Szenen mit Ensemble und Extra-Chor. Das 20-köpfige Orchester unter der Leitung von Tjaard Kirsch erzeugt bereits während der ersten Takte Gänsehaut. Emotionen werden hier nicht nur gesanglich transportiert, sondern auch instrumental. Das völlig durchkomponierte Stück stellt eine Herausforderung für Künstler, wie auch Musiker dar und verfehlt seine Wirkung auf das Publikum nicht. Mit seiner unglaublichen Länge von 100 Minuten ist der erste Akt noch einmal fast 15 Minuten länger als der zweite und die zwanzigminütige Pause als Erholung für Darsteller, Musiker und Publikum dringend vonnöten.

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Was Patrick Stanke als Jean Valjean im Prolog des Musicals auf der Bühne macht, kann man nur schwer in Worte fassen. Er zieht einen förmlich in den Bann der Geschichte mit seiner Mimik und Gestik und das auch noch in Reihe 31. Dies wird schon am Anfang im Sträflingslager deutlich, als er seine Entlassungspapiere bekommt und für seinen eigenen Namen einsteht, und wird gesanglich wie auch schauspielerisch beinahe minütlich intensiver. Allein die Geste noch einmal zu Gott zu beten, nachdem der Bischoff ihm unerwartet Freiheit und Reichtum beschert ist unglaublich berührend. Kraft und Stärke strahlt seine Figur aus, aber auch Verletzlichkeit und Demut, wenn ihm ein vermeintlicher Fehler unterlaufen ist. Stanke lebt seine Rolle auf der großen Bühne buchstäblich und schöpft deren Facettenreichtum bis ins kleinste Detail aus. Die Interpretation seines Jean Valjean rührt einen vor allem bei der Nummer „Bring ihn heim“, wohl dem Paradestück der Figur, zu Tränen. Deutlicher kann kaum werden, dass sich lange und tiefgründig mit der Bühnenfigur beschäftigt wurde und die Zerrissenheit der Person kommt an dieser Stelle besonders deutlich zum Tragen. Das Zusammenspiel mit Kevin Tarte als Javert ist grandios, dies wird vor allem beim „Doppelten Schwur“ spürbar.

Quelle: Patrick Stanke Facebook
Quelle: Patrick Stanke Facebook

Kevin Tarte spielt Javert, welcher Jean Valjean das Leben nicht ganz einfach macht. Lange hat er warten müssen, bis sich dieser lang gehegte Traum in den Widersacher Valjeans zu schlüpfen erfüllt hat. Wie man es von Kevin Tarte gewohnt ist, füllt er diese Rolle gekonnt mit allem aus was sie braucht. Als ewig Zweiter versucht sich Javert durch unangemessen autoritäres Verhalten Gehör zu verschaffen. Die Auftritte Tartes sind zu jeder Zeit ein Highlight und vor allem im Zusammenspiel mit den Kollegen stets ein Genuss. Die Interpretation von „Sterne“ erzeugt Gänsehaut und der Selbstmord Javerts wird an der Freilichtbühne gekonnt inszeniert.

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Fantines Auftritt in dem gut dreistündigen Musical steht vor allem im ersten Akt mit im Zentrum des Geschehens. Als Fabrikmitarbeiterin arbeitet sie in der Wäschefabrik von Jean Valjean. Die Kolleginnen machen ihr das Leben zur Qual, schließlich wird sie vom Vorarbeiter rausgeworfen. Dabei braucht sie das Geld für ihre Tochter Cosette, die von gierigen Wirtsleuten in Obhut genommen wurde, nachdem Fantine selbst von ihrem Mann verlassen wurde. Milica Jovanovic ist eine bezaubernde Fantine mit einer glockenklaren Stimme, die einem wieder einmal mehr Gänsehaut zaubert. Vor allem aber der Epilog im Zusammenspiel mit Patrick Stanke, Daniela Braun und Florian Peters rührt einen einmal mehr zu Tränen.

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David Jakobs durfte bereits als kleiner Junge 1996 Gavroche in Duisburg spielen. Nun, 22 Jahre später, steht er als Enjolras auf der Bühne und motiviert seine Kommilitonen dazu auf die Barrikaden zu gehen. Als Anführer der Aufständler, die eigentlich selbst gerade erst den Kinderschuhen entwachsen sind, überzeugt er auf ganzer Linie. Sein Aufruf steigert sich mit dem stimmlichen Einsatz seiner Kollegen zu einer Hymne und wirkt unfassbar energetisch. Ein doch sehr herzerweichender Moment ist das Aufeinandertreffen von Gavroche und Enjolras bei „Wir Kleinen“.

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Jens Janke ist kurzerhand für den Verletzten Frank Winkels als Thénardier in Tecklenburg eingesprungen. Diesen verkörperte er bereits bei der deutschsprachigen Erstaufführung in Duisburg. Bettina Meske spielt seine Bühnenpartnerin Madame Thénardier. Sie beide mimen perfekt das Wirtshaus-Ehepaar, welches sich um Cosette „kümmert“ aber letzten Endes an allen Ecken und Kanten versucht an Geld zu kommen. Den Thénardiers gehören große Szenen auf der Tecklenburger Bühne mit „Ich bin Herr im Haus“ oder „Bettler ans Buffet“. Herrlich komödiantisch fordert Janke die Lachmuskeln des Publikums in diesem doch sehr ernsten Stück. Mit der frechen Art des Wirtes, dessen Werdegang über die Jahre nicht minder tragisch ist, als der aller anderer Figuren, entlockt er den Zuschauern doch immer wieder Lachsalven und ausnahmsweise Tränen der Freude, die jene der Rührung und Ergriffenheit ablösen.

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Florian Peters kann als Marius vor allem im zweiten Akt emotional bei „Der Regen“ überzeugen. Besonders hervorzuheben ist allerdings die Szene „Dunkles Schweigen an den Tischen“, mit der Regisseur Wiggers ein kleines Meisterwerk gelungen ist. Die Emotionen des Liedes, welches kurz nach der Revolution und der Errettung Marius‘ von selbigem vorgetragen wird, werden auf unglaubliche Weise transportiert, die nicht nur das Publikum, sondern deutlich sichtbar auch den Darsteller auf der Bühne ergreift. Mit dem bildlichen Erscheinen der Toten in der Szene und deren Verschwinden, ehe ein Blick des Überlebenden auf sie fallen kann, wird eine ganz besondere Stimmung im Publikum erzeugt, die gänsehautverdächtiger kaum sein kann und noch lange nachhallt.

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Daniela Braun und Lasarah Sattler können als Cosette und Eponine ebenfalls von sich überzeugen. Lasarah Sattler ist eine Überraschung an diesem Abend. Ihr „Nur für mich“ rührt einen wieder einmal mehr zu Tränen. Die zierliche Darstellerin erweist sich als hervorragende Wahl in der Besetzung als Eponine. Ihr tragischer Tod, nachdem sie selbstlos Marius‘ Brief an Valjean überbracht hat erschüttert unverhofft stark, obwohl man den Verlauf der Geschichte durchaus kennt. Dass die Studenten zu ihren Ehren weiter kämpfen, sie aber nur als erste, aber nicht als letzte auf den Barrikaden den Heldentod stirbt, beschert eine lang anhaltende Gänsehaut und das Gefühl von Wut, Trauer und Machtlosigkeit.

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Heimliche Stars sind die Kinderdarsteller. Sie alle wirken hauptsächlich im Kindermusical „Peter Pan“ mit, haben aber nun die Möglichkeit nicht nur mit Profis auf der Bühne zu stehen, sondern mit Stars der Szene. Die Rolle des Gavroche ist mit Dean Clausmeyer, Jonas Kirsch und Adrian Müller-Bromley gleich dreimal für die Spielzeit besetzt. Eponine und Cosette hingegen jeweils nur zweimal mit Claire Heinrich und Malina Ziegeler, sowie Malina Mahnig und Carlotta Mahnig. Die drei des Abends (Anmerkung d. Redaktion: Leider gab es keine genaue Castliste) konnten schauspielerisch und gesanglich genauso überzeugen wie die Großen.

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Was wäre aber eine Tecklenburger Inszenierung ohne das Ensemble und den Extra-Chor? Genau, nur halb so schön. Das Ensemble wurde ebenfalls gut ausgewählt und sorgt bei den großen und kleinen Szenen für Gänsehaut- und WOW-Momente. Mit absoluter Liebe zum Detail wird die Inszenierung noch lange im Gedächtnis bleiben, und aus jeder Perspektive im Publikum noch viel Neues zu entdecken sein. Durch das große Ensemble ist es beinahe unmöglich, jedem Mitwirkenden die Achtung zu schenken, die er wirklich verdient, denn jeder von ihnen leistet großartige Arbeit. Das abendfüllende Programm, welches die Besucher mehr als drei Stunden auf ihren Plätzen hält, ist zu keiner Zeit langatmig oder überzogen. Es ist ernst, und mit seiner Thematik heute noch so aktuell wie 1832, doch an genau den richtigen Stellen pointiert, um es nicht zu einem Trauerspiel abrutschen zu lassen. Das Publikum zeigt sich begeistert, wie auch die „Zugabe“-Rufe beim verdient stehenden Schlussapplaus zeigen.

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Das Fazit zu dieser Inszenierung fällt eindeutig aus: Der Weg nach Tecklenburg, sei er auch noch so weit, lohnt sich auf alle Fälle, zumal keiner weiß, wann es das Musical im deutschsprachigen Raum wieder zu sehen geben wird. Les Misérables läuft noch bis zum 15. September. ACHTUNG! Am 04. und 05. August steht Robert Meyer in der Rolle des Javert auf der Bühne und wer den Regisseur selbst einmal aktiv im Bühnengeschehen erleben möchte, sollte versuchen, sich Restkarten für den 09. oder 10. August zu besorgen, denn an diesen Tagen steht Ulrich Wiggers als Thenardier auf der Bühne.

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Artikel von Anna-Virginia

Impressionen vom Schlussapplaus


Fotos von Andrea