HAIR – Gärtnerplatztheater München
Musik: Galt Mac Dermot
Buch und Texte: Gerome Ragni und James Rado
Vorweg: Ehre, wem Ehre gebührt. Deswegen möchte ich gleich zu Beginn das fantastische Ensemble hervorheben, das in „Hair“ in der Münchner Reithalle die versammelte Hippie-Mannschaft gibt. Immerhin steht beim „American Tribal Love-Rock Musical“, das bei seiner Uraufführung im April 1968 am New Yorker Broadway für ein kulturelles Phänomen sorgte, dieser Stamm junger Wilder ganz im Mittelpunkt des Geschehens. Und diese Ensembleleistung in der Inszenierung des Gärtnerplatztheaters ist schlichtweg phänomenal. Da wird in grandiosen Chorarrangements die Freiheit des Flower-Powers besungen, das Kriegstreiben der Welt angeklagt oder auch einfach zum Konsum bewusstseinserweiternder Mittel gesäuselt.
Gleichzeitig ist jedes einzelne Mitglied des Tribes rund um den selbsternannten Anführer Berger (draufgängerisch: Dominik Hees) ein Individuum. Egal ob groß, ob klein, dunkel- oder hellhäutig, weiblich, männlich oder unentschlossen – hier wurde wunderbar bunt und vielfältig gecastet, wie es sich für das bunte Hippie-Treiben gehört. Demnach erhält auch jedes Ensemblemitglied seine Möglichkeit zu scheinen – manch einer mehr, manch einer weniger. Doch egal, ob im Gesangstrio neben dem Elektrostuhl („Electric Blues“), als Abraham Lincoln auf Stelzen („Abie Baby“) oder durch einen aus dem Chor herausragenden Spitzenton (oftmals Dionne Wudu als ihre Namensvetterin), jeder bleibt in Erinnerung und erhält bei Verbeugung auch entsprechend verdienten Einzelapplaus.
Die Trennung zwischen Rollen und eigentlichem Performen verschwindet in Hair. Man erhält den Eindruck, dass hier durchaus eine Art kommunenartiges Gemeinschaftsgefühl zwischen den Mitwirkenden entstanden ist. Zu Beginn des 2. Aktes kann man etwa beobachten, dass sich einige Darsteller auf der Bühne hinsetzen und unterhalten, während die Zuschauer noch gar nicht alle anwesend sind.
Diese Wirkung ist für das Stück unerlässlich, immerhin schuf dieses in seiner offenen Happening-Dramaturgie eine neue Art des Musicals. (Die deutsche Erstaufführung war übrigens im Herbst 1968 hier in München im Theater an der Brienner Straße, dem heutigen Volkstheater.) Man hat oftmals den Eindruck, dass es sich auch in der Fassung von Regisseur Gil Mehmert viel mehr um eine Revue als um ein traditionelles Book-Musical handelt.
Die knappe Handlung über Claude, der in die Hippie-Kommune gerät und sich gleichzeitig entscheiden muss, ob er seinem Einberufungsbefehl nach Vietnam folgen soll, ist hier nicht viel mehr als ein Aufhänger für viele kleine Szenen, die das Lebensgefühl der späten 60er Jahre einfangen sollen. Mehmerts Inszenierung gelingt dies nahezu perfekt, weshalb seine Leistung auch hervorzuheben ist. Er setzt die Handlung in einen Rahmen, in der sich Dagmar Hellberg und Frank Berg als Althippies am Ende die grauen Spießerklamotten vom Leib reißen dürfen, um zu verkünden: In uns allen steckt der Wunsch nach Liebe und Frieden. Wir sind alle Hippies. Das ist auch der einzige kleine, aber wirkungsvolle Gegenwartsbezug, den der Regisseur anbringt.
Ansonsten bleibt die Inszenierung stark in ihrer Entstehungszeit, wofür auch die schönen Kostüme von Dagmar Morell sorgen, deren detaillierte Farben und Stoffe die perfekte Balance zwischen 60er-Jahre-Authentizität und Flower-Power-Fantasie finden.
Jens Kilians Bühne ist ein weiterer Grund, warum der Abend so toll funktioniert. Sie besteht aus einer zu den ersten Reihen des Publikums ebenerdigen (Hanf-)Spielwiese des Tribes und einer dahinter angesiedelten Bühne, auf der auch die stilechte Band des Abends positioniert ist (Musikalische Leitung: Jeff Frohner). Diese Bühne wird auch oftmals Teil der Handlung, etwa wenn Sheila (herausragend: Bettina Mönch) unter dem Jubel der Mithippies ihr „I Believe In Love“ an der Gitarre zum Besten gibt. Zu diesem Woodstock-Feeling tragen auch zwei große, gelbliche Schweinwerfergerüste bei, die immer wieder umhergeschoben werden. Manchmal flankieren Sie das Geschehen, manchmal werden sie beklettert oder manchmal blenden Sie das Publikum, was zum Teil des Rockkonzerts wird.
Michael Heidingers Licht ist es auch zu verdanken, dass viele Momente der Inszenierung wie bildhafte Tableaus mir nicht mehr aus dem Kopf gehen wollen. Exemplarisch sei hier das zu Tränen rührende Ende genannt, in der Claude (der zu Recht 2016 preisgekrönte David Jakobs) seinen Tod im Vietnamkrieg findet. Das Ensemble legt Blumen in die Helme der gefallenen Soldaten und singt dabei den berühmtesten Hit des Musicals an (Seien wir doch ehrlich: jeder wartet auf „Let The Sunshine“ in!).
Ebenso einprägsam ist „Black Boys – White Boys“, das eigentlich die weibliche Begierde an der anderen Hautfarbe zelebriert. In der Szene treten zunächst wie gewohnt eine Girlgroup à la Supremes zu beschwingten Motown-Klängen auf (‚kleiner‘ Unterschied: ein charismatischer Victor Hugo Barreto in Drag als imposante Lead-Sängerin). Diese werden jedoch durch den Aufmarsch des fackeltragenden Ku-Klux-Klans vertrieben, womit die Nummer eine schaurig-schöne Umdeutung durch Mehmert erfährt. Das daraufhin von einigen Klan-Mitgliedern gesungene „Black Boys Are Delicious“ hat so gar nichts Sexuelles mehr an sich. Wäre der Klang der Songs in dieser Szene etwas besser gewesen, der Moment hätte perfekt sein können. Es ist einer der vielen Episoden in Mehmerts Inszenierung, die in Erinnerung bleibt.
In diesem Zusammenhang seien auch Melissa Kings Choreographien genannt, die die perfekte Mischung aus Uniformität und Individualismus darstellen, was ja auch ein wenig für die widersprüchliche Situation der Hippies steht. Einerseits pocht man auf Freiheit und Individualität, andererseits grenzt man auch aus und lässt keinen anderen rein.
Und ja, es ist wird auch gemeinsam blank gezogen, wie es sich für vernünftige Hippies gehört. Die Szene ist jedoch wenig erotisch oder gar beschämend, sie ist vor allem tiefst menschlich. Im Rahmen einer Demo schmettern die entblößten Wilden dem Establishment seine eigene, frömmelnde Gospel-Musik entgegen („Three-Five-Zero-Zero“). Durch die aufmarschierende Staatsgewalt werden alle bis auf Mönch als Sheila zurückgedrängt, der nichts als ihre nackte Haut und die Gitarre bleiben. Der eigentliche Gewaltakt an ihr durch die Knüppel der Polizei bleibt angedeutet. Ihre Finger schmieren blutige Streifen auf ihr Instrument. Es ist der stärkste Moment des Abends, darstellerisch, musikalisch, inszenatorisch.
Genannt sei noch Christina Patten als die werdende Hippiemutter Jeannie, die mit „Air“ eine gesanglich eigentlich eher undankbare Solonummer besitzt. Dank der Aufnahme des selten gespielten „How I Love My Hippie Life“ in die Songliste, darf man jedoch Zeuge ihrer ganzen Stimmgewalt werden. Dankeschön!
Ich persönlich empfinde die Reithalle als Ausweichspielstätte des sich noch in Umbauarbeiten befindenden Staatstheater am Gärtnerplatz als große Bereicherung. Ich möchte mir nicht vorstellen, wie es wäre, wenn die Hippies durch ein traditionelles Theater mit Guckkastenbühne und hübschem Dekor hopsen. Der Sound ist wunderbar satt, rockig aber gleichzeitig auch gut verständlich (mit einigen wenigen bereits angedeuteten Ausnahmen).
Ich hätte mir fast wegen der Offenheit der Bühne ein wenig mehr Interaktion mit dem Publikum gewünscht aber es mag andere geben, die ganz froh darüber waren. Ein schönes Symbol ist es auf alle Fälle, als die Hippies zum Schluss bei der Reprise von „Let The Sunshine In“ aus dem Zuschauerraum einige Anwesende auf die Bühne holen. Langsam verschwinden sie nach und nach aus der Menge der Tanzenden, bis zum Schluss nur noch die Geholten übrig sind. Sie bleiben bis die Band die letzten Töne spielt. Die Devise lautet also: in jedem von uns stecken Freedom, Love, Peace and Happiness. Diese Themen werden daher auch immer aktuell bleiben.
Ich würde demnach jedem, der das hier liest, raten sich in die Reithalle zu „Hair“ zu begeben. Allerdings sind alle Abende (trotz Zusatzvorstellung) bis zum 17. März ausverkauft. Gut für das Staatstheater, schlecht für die vielen Zuschauer, denen hier grandioses Musiktheater entgeht. Ich hoffe also entweder auf mehr Zusatzvorstellungen, eine Wiederaufnahme in der nächsten Spielzeit oder – mein ganz persönlicher Wunschtraum – eine Open-End-Laufzeit in der Reithalle. Diese Inszenierung und dieses Ensemble hätten es verdient!
Wir danken Georg M. für diesen Beitrag!