Doktor Schiwago – Lüneburg 2019/2020

Premiere: 16. November 2019

Besuchte Vorstellung: 16. Februar 2020

“Jetzt, ich sage es dir jetzt,

Und heut‘ und hier zuletzt geb‘ ich es zu.

Ich hab nur jetzt, ich warte nicht mehr ab.

Die Zeit wird mir zu knapp bis ich es tu.

Denn schon morgen könnte ich für immer ruh’n.

Darum sag ich nun, denn ich muss es tun:

Ich liebe dich und ich weiß es hier und jetzt!“

Zugegeben, wer Boris Pasternaks Roman in Schulzeiten lesen musste, steht mit der Geschichte um den jungen Arzt Jurij Schiwago und seiner Liebe in Zeiten der Russischen Revolution vermutlich im wahrsten Sinne des Wortes auf „Kriegsfuß“.  Umso beeindruckender empfand ich die zweieinhalbstündige Zeitreise in eine untergehende Welt des frühen 20. Jahrhunderts im Großen Saal des Lüneburger Theaters.  

Der erste Akt kommt etwas schwerfällig daher. Das mag sowohl an der historisch komplexen Thematik liegen als auch an der, für ungeschultes Gehör, schwierigen musikalischen Untermalung. Insgesamt werden die Zuschauer keinesfalls schonend und behutsam in das Stück eingeführt. „Mittendrin statt nur dabei“ ist eher die Devise. Wenngleich Kristian Lucas mit tadellos stimmlicher Darbietung von der ersten Minute an überzeugen konnte, so erfuhr das Publikum eher eine Art Kulturschock. Der ein oder andere Zuschauer wirkte zunächst überfordert und musste sich erst mit dem Dargebotenen arrangieren. Zweifel, dass es sich bei dem Inszenierten um ein Drama handelt, blieben jedenfalls keine. 

Im zweiten Akt fällt es nach einer herbeigesehnten Pause und kurzer gedanklicher Erholung deutlich leichter zu folgen und sich auf das im Krieg befindliche Russland einzulassen.

Zunächst eine kurze inhaltliche Zusammenfassung des Stücks:

Im Zentrum der Geschichte steht Jurij Schiwago ( Kristian Lucas), der früh seine Eltern verlor und in gutem Hause gemeinsam mit Tonia Gromeko (Jeannine Michèle Wacker) aufwächst. Dieser ist er bereits in Jugendtagen versprochen und so scheint es die Ironie des Schicksals zu sein, dass ihm am Tag seiner Hochzeit eine Schicksalsbegegnung mit Larissa Antipova (Dorothea Maria Müller) widerfährt. Sie versucht auf eben dieser Hochzeit den bisweilen unbekannten Verbindungspunkt der beiden Familien, Rechtsanwalt Viktor Komarovskij (Ulrich Kratz) zu erschießen. Jurij scheint von Lara in den Bann gezogen, da sie den Mut besaß, den er nie aufbringen hatte können. Komarovskij hatte Jurijs Vater finanziell ausgebeutet.

Als Dichter und Arzt bleibt auch Jurij Schiwago nicht davor verschont in den Krieg zu ziehen. In einem Lazarett trifft er die nunmehr als Krankenschwester tätige Lara wieder und ist so von ihr in den Bann

gezogen, dass er auch seiner Frau Tonia in einem seiner unzähligen, lyrisch imposanten Briefe von ihr berichtet. Begründet im Kriegsende trennen sich jedoch schon bald die Wege der beiden wieder und Jurij Schiwago kehrt zu seiner Familie nach Moskau zurück und gerät nicht nur mit seiner lyrischen Dichtkunst in den Fokus der „Roten“, die neben Russland auch sein Haus übernommen haben. Lara geht indes zurück in eine kleine Stadt namens Jurjatino, um dort als Lehrerin zu arbeiten.  Letztlich beschließt Jurijs Familie zu fliehen und wählt als Ziel keinen geringeren Ort als – Jurjatino.

Kaum in Jurajtino angekommen wird Jurij im Auftrag von Laras Ehemann, dem Partisanenkommandanten Strelnikov, entführt, jedoch auch umgehend wieder freigelassen. 

Jurij lebt mit seiner Familie auf einem Landgut und geht seiner Dichtkunst in einer Bibliothek nach. An diesem Ort soll er Lara wiedertreffen. Die innige und nunmehr leidenschaftliche Beziehung zueinander hält jedoch nur kurz. Noch bevor Jurij sein Vorhaben, die Affäre mit Lara zu beenden, in die Tat umsetzen kann, wird er erneut im Auftrag von Strelnikov entführt. 

Tonia hat von der Affäre Jurijs erfahren und begibt sich zielstrebig in die Bibliothek, um ihre Nebenbuhlerin kennenzulernen. Anstatt sie zu hassen, zeigt sie jedoch wahre Größe und begegnet Lara mit Respekt und auf Augenhöhe. 

Jurij flüchtet sich aus der Gefangenschaft und trifft neben Lara auch Komarovskij an seinem Zufluchtsort wieder. Da dieser Lara seit ihrer Kindheit verfallen ist, will er sowohl ihr als auch Jurij zur Flucht ins Ausland verhelfen. Nachdem Lara mit Komarovski die Flucht bereits angetreten hatte, trifft Jurij auf Strelnikov, der zum Tode verurteilt worden ist. Er gibt sich Jurij als Laras Ehemann zu erkennen und suizidiert sich letztlich.  

Jurirj, der in der Folge einige Jahre als Arzt der Armen gearbeitet hat, verstirbt ebenfalls. Was bleibt, sind seine Dichtungen – gefürchtet von den Machthabern, aber verehrt vom Volk. 

Insgesamt fällt es dem Stück aufgrund des historisch anspruchsvollen Volumens schwer zu glänzen und sich auf die Kernaufgaben eines Musicals zu konzentrieren. Einen knapp 700 Seiten langen Roman in zweieinhalb Stunden zu pressen, ohne an wichtigen Details und dem musikalischen Rahmen zu sparen, scheint schier unmöglich. Dennoch ist es den Verantwortlichen gelungen ein ausgewogenes Verhältnis von Dialogen und Musik zu schaffen. 

Beeindruckend empfand ich vor allem das Bühnenbild, das für ein recht kleines Theater durch tolle Flexibilität, imposante sowie prägnante Symbole und technisch anspruchsvolle Inhalte überzeugen konnte. Im Publikum hatte wohl niemand Zweifel daran, sich mitten im kalten russischen Winter Anfang des 20. Jahrhunderts zu befinden. 

Gesanglich musste ein Großteil der Akteure, die auf mittelmäßigem Niveau agierten, vor allem hinter dem Orchester unter der Leitung von Ulrich Stöcker zurückstecken. Die Lüneburger Symphoniker spielten auf Weltklasse-Niveau. 

Nichtsdestotrotz konnte Kristian Lucas in seiner Hauptrolle als Doktor Schiwago insbesondere durch seine darstellerische Leistung überzeugen. Es gelang ihm durch den wohl dosierten Einsatz an Gestik die innere Zerrissenheit des Jurij Schiwago zu veranschaulichen. Er schaffte es den Zuschauern mit einer ernsten, aber leichten Dramatik ein Bild davon zu vermitteln, wie Schiwagos Leben von jetzt auf gleich auf den Kopf gestellt wurde. Stimmliche Einbußen gab es hierbei nicht. 

Auch die stringent und energisch auftretende Dorothea Maria Müller inszenierte die selbstbewusste Lara tadellos.  

Steffen Neutze entwickelte sich in seiner Rolle als Pawel Antipov und später als Strelnikow vom naiven Studenten zum befehlsgewaltigen Machthaber. Überzeugend und dominant reifte er zu einem solch angsteinflößenden Charakter heran, dem wohl niemand gern im Dunklen begegnet wäre. 

So kraftvoll und dynamisch die musikalische Untermalung des Stückes auch war, so wenig blieb sie nach Ende der Veranstaltung im Ohr. Das einzige musikalische Highlight war wohl das Duett von Lara und Tonia, mit dem sie selbst Hauptdarsteller Kristian Lucas die Show stahlen. Mit der gefühlvollen Darbietung schafften es beide das Publikum zum einzigen Tränenmoment des Abends zu rühren. 

Als heimlicher Star des Abends entpuppte sich Jeannine Michéle Wacker mit ihrer Inszenierung der Tonia Gromeko. Wacker spielte diese äußerlich so puppenhaft und zierlich wirkende kleine Frau mit innerer Größe unfassbar authentisch. Sie erreicht es, dem Publikum den inneren Spiegel der Tonia vorzuhalten, deren Leben von einem riesigen Wandel geprägt war und die wohl behütet und erzogen zu keinem Zeitpunkt darauf vorbereitet wurde, was sie einmal durchleben würde. Mit Wacker wuchs in Tonia im Laufe des Stückes eine unvorhersehbare Stärke, die trotz erheblicher Niederschläge mit Würde durchs Leben ging und so auch Lara begegnete. 

Alles in allem versuchten die Produzenten das Publikum in knapp 2,5 Stunden durch 30 Jahre erhebliche russische Geschichte zu führen und auch an Mord, Lovestory und Spannung nicht zu geizen. Insbesondere Zuschauern, die keine historische Vorbildung mitbrachten, dürfte das zu schnell gegangen sein. Detailverliebte und Momentträumer  kamen nicht auf ihre Kosten. 


Artikel von Lena